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   Ein Prinz aus Zelluloid

Rudolph Valentino zum 75. Todestag


Radio Bremen, 28. August 2001

Funkmanuskript, © Christine Wunnicke 2001



Erzählerin:
Lochblende. Die Wüste Sahara. Lady Diana, die schöne Touristin aus England, hoch zu Ross unterwegs über eine weiße Leinwand. Ihr Schicksal lauert hinter einer Düne, Ahmed Ben Hassan, der Scheich. Seine Nasenflügel zittern. Er fletscht die Zähne. Schon im Casino von Biskra hat der Unhold seine Beute erspäht, vorgestern, als "Halima, die lieblichste Blume Arabiens" für ihn tanzte. Nun ist Diana fällig. Der Scheich springt auf seinen weißen Hengst, eine wilde Jagd, die Windmaschine peitscht den Sand der Sahara, ein Märchen aus Licht, auf Zelluloid gebannt in Yuma/Arizona. Diana gibt ihrem Pferd die Sporen. Ahmed greift ihr in die Zügel. Diana zieht ihre kleine Pistole, schießt, trifft nicht, schreit einen stummen Schrei. Ahmed zerrt sie auf sein Pferd. "Lieg still, kleine Närrin", rät der Zwischentitel, die Lady verliert die Besinnung. "Warum brachtest du mich hier her?", wimmert Dianas Zwischentitel, als sie in Ahmeds Lager angekommen sind. Ahmed lächelt ein schlimmes Lächeln: "Bist du nicht Frau genug, das zu wissen?"

Zitator:
Sie starrte ihn an, trockenen Auges, denn weinen konnte sie nicht mehr; längst vergossen hatte sie all ihre Tränen, als sie zu seinen Füßen im Staube kroch und um Gnade bettelte, die er ihr nicht gewährte. Sie hatte mit ihm gerungen in einem ungleichen Kampf, bis sie hilflos in seine Arme sank, ihr ganzer Körper nichts als Schmerz, Schmerz unter seinen brutalen Händen, die sie zu Gehorsam zwangen und ihren Willen gebrochen hatten. Ahmed Ben Hassan beugte sich über sie und zog ihre Hände langsam hinauf zu seiner Brust. "Komm", murmelte er und verschlang sie mit Blicken der Leidenschaft. Fruchtlos war ihr Kampf gegen seine Grausamkeit, seine Magie; sie lag zitternd in seinen Armen. "Kleiner Dummkopf", flüsterte der Scheich, "besser ich als meine Männer!" Dieser Hohn brach ihr Schweigen. "Oh, du Tier! Du Tier!", schrie sie auf – bis seine Küsse ihre Lippen verschlossen.

Erzählerin:
Als Edith Maude Winstanley, die ältliche Gattin eines Schweinezüchters im englischen Derbyshire, diese sadomasochistische Idylle 1919 zu Papier brachte, konnte sie nicht ahnen, welchen Millionenerfolg sie in Händen hielt - und welchen Wahnsinn die Untaten ihres Scheichs erst auslösen würden, sobald der Romanbestseller seinen Weg auf die Leinwand gefunden hatte. Selten hatte ein Werbeslogan solch prophetische Qualitäten wie jener, den Paramount 1921 für den Film ersann: "Shriek for the Sheik" - "Kreisch für den Scheich": Denn so viel gekreischt, gestöhnt und kollabiert wurde nie zuvor und selten danach im Kino; Ekstasen, ein kollektiver Liebesakt mit einem bewegten Lichtbild namens Rudolph Valentino. So wie Lady Diana dem Scheich zu Willen ist, so unterwirft sich Valentino der Zuschauerin; wehrlos und stumm, käuflich um den Preis einer Kinokarte. Eine zivilierte Bestie. Der Sexgott, der durch die Wüste schleicht, als sei das die Tanzfläche von Delmonico´s Cabaret. Der Scheich trägt eine Armbanduhr von Cartier, die der Regisseur übersah, mehr Lippenstift als Gloria Swanson, und in manchen Momenten sieht er aus, als sei er Lady Dianas Schwester.

Arabischer Nippes, arabische Mode werden der letzte Schrei. Amerikanische Psychiater publizieren wissenschaftliche Artikel über das Phänomen Scheich: "Unreife Sexualität"; "Kontrollverlust"; "öffentliche Hysterie". Das Wort "Sheik" bekommt eine neue Bedeutung: Der Mann von Welt, der perfekte Liebhaber, einer, der cool ist, schick und up to date, einer, dessen Haarpomade fast so glänzt wie jene des Gottes Valentino – das ist ab sofort ein "Sheik". 125 Millionen sehen den Film. Valentino sortiert seine Fanpost - oft liegen Höschen bei, oder Stoffschnipsel von solchen, mit der Bitte sie zu berühren, mit den Lippen wenn möglich, und sie dann zurückzusenden, Umschlag liegt bei. Unbeirrt flattert Scheich Ahmeds Burnus im Wüstenwind. Mrs. Winstanley staunt über ihre Tantiemen und macht sich an die Fortsetzung des Romans. "Der Inbegriff einer schlechten schauspielerischen Leistung", mault Valentino über Valentino, "warum eigentlich diese ständige Augenrollerei?"

Zwei große Ereignisse prägen das Jahr 1895: Im indischen Salon des Grand Café des Capucines in Paris findet die erste öffentliche Vorführung des Kinematographen der Brüder Lumière statt, was heute als Geburtsstunde des Kinos gilt – und in Castellaneta, einem sehr langweiligen Städtchen im sehr südlichen Italien, bekommt die Frau des Tierarztes Guglielmi einen Sohn. An seinem Taufbecken steht eine gute Fee und diktiert die Namen: Es ist aktenkundig, das Baby heißt Rodolfo Alfonso Rafaello Pierre Filibert Guglielmi di Valentina d'Antonguolla. Der Knabe hat es eilig, ein Mann zu werden: Mit fünf versucht er sich zu rasieren, die Narbe auf der Wange sieht man in allen seinen Filmen, und sie stammt nicht, wie er später gerne behauptet, von einem galanten Duell im Bois de Bologne. Rodolfo schwänzt die Schule, träumt vor sich hin, wird immer hübscher. Als man den Teenager in Taranto auf die Landwirtschaftsschule schickt, ist er längst das Sorgenkind der Familie. Seine Lehrer wissen nicht, ob er faul ist, dumm oder beides; sie halten ihre Töchter unter Verschluss, denn der kleine Guglielmi sammelt Mädchen. Wenn er nicht gerade über Dachfirste balanciert, um die minderjährigen Schönheiten von Taranto zu beglücken, sitzt er meistens im Arrest und büßt seine Sünden. König Vittorio Emanuele kommt nach Taranto. Man schließt den schwererziehbaren Rodolfo im Schlafsaal ein, ohne Hosen, damit er nicht entkommt. Er flieht durchs Fenster, stiehlt einen Degen aus der schuleigenen Waffenkammer und einen Esel aus dem schuleigenen Stall, und er reitet dem König entgegen, in der Wäsche, den blanken Degen in der Hand. Grandezza. Am nächsten Tag fliegt er von der Schule.

Der Vater ist gestorben. Die Mutter sorgt sich um Rodolfo, bekocht ihn, steckt ihm Geld zu, betet den Rosenkranz. Rodolfo mag nichts lernen. Er will Held werden, Bandit, König, Scheich, Pirat – zur Not auch Marineoffizier. Er wird ausgemustert: zu schmächtig, zwei Zentimeter fehlen zum vorgeschriebenen Brustumfang. Rodolfo ist tief gekränkt. Was hat Italien noch zu bieten? Er will auswandern. Mutter vergießt bittere Tränen, aber Nachbarn und Verwandte sind so angetan von dieser Idee, dass sie fast eine Kollekte für seine Reisekosten veranstaltet hätten. Im Dezember 1913 geht Rodolfo Guglielmi an Bord der "Cleveland" und bricht auf nach New York, um dort sein Glück zu machen.

Es ist eine harte Zeit. Rodolfo arbeitet als Tellerwäscher, Straßenkehrer, Botenjunge, pflückt Räupchen von den Rosenblättern im Central Park. Ein falsches Wort vom Chef, und Rodolfo faucht italienische Flüche, er ist jeden Job gleich wieder los. Er klaut Papier aus feinen Hotels und schreibt darauf Briefe an Mama. Zeitweise schläft er auf Parkbänken. Zeitweise hat er Lust, sich im Hudson River zu ertränken. Er bekommt eine Anstellung als Gärtnersgehilfe bei einem Millionär auf Long Island, beobachtet die feinen Leute, lernt viel dazu, Manieren und Englisch. Jemand leiht ihm ein Motorrad, er fährt es zu Schrott auf dem Anwesen, das kostet ihn wieder den Job. Die Mädchen mögen ihn noch immer, aber davon kann man nicht leben. Oder doch? Amerikanische Damen zahlen in Bar. Sie zahlen erst für den Tango und dann für die Liebe, im Maxim´s, im Delmonico´s, im Bustanoby´s, weiblicher Kapitalismus, erschreckende Emanzipation. Die Liebe beherrscht Rodolfo schon, den Tango lernt er schnell. Sollte er in der ersten Kunst ebenso virtuos gewesen sein wie in der zweiten, so darf man seine Kundinnen beneiden; wenn Rodolfo den Tango tanzt, ist er unvergleichlich, es ist mehrfach auf Zelluloid gebannt, und selbst ohne Musik, wenn nur der Projektor schnurrt, schmilzt man dahin, wenn er tanzt - sogar heute, im kühlen 21. Jahrhundert. "Schöner Gigolo - armer Gigolo..." – kein Job, um ihn Mama allzu genau zu beschreiben. Bald tritt er auch auf – als Partner der berühmten Tänzerin Joan Sawyer; Vaudeville, Cabarets – sein Marktwert steigt. Mister Guglielmi. Die Damen von New York tun ihr bestes, aber sie verknoten sich die Zunge bei diesem Namen. Er klingt wie "Gack-Lemmy". Das gefällt dem Tänzer nicht. Er nennt sich fortan Rodolfo di Valentina, und dann trifft er eines Abends Bianca de Saulles: Eine Romanze beginnt, wie sie Hollywood nicht schöner erfinden könnte.

Zitator:
Lochblende. Hochsommer in Chile. Kakteen, in der Ferne die Anden. Señorita Bianca Errazuriz, die Haut weiß wie Schnee, das Haar schwarz wie Ebenholz, sitzt auf der Veranda der mütterlichen Hacienda. Auf Dienstreise in Chile: Der Amerikaner Jack de Saulles. Athletisch, elegant, Football-Champion, Wall Street-Banker. Er sieht Bianca und entflammt. Sie flieht: nach Europa, Spanien, Frankreich. Jack jagt sie, bedroht sie, beschenkt sie, schließlich heiratet er sie in Paris. Daheim in New York entpuppt er sich als Bösewicht. Er betrügt sie. Er verspottet sie. Er läßt sie allein in einem Haus voller Marmor, Pekinesen und Antiquitäten und vergnügt sich mit den Schlampen der Ziegfeld Follies. Bianca geht ins Maxim´s. Ein schöner Jüngling mit feurigem Blick. Bianca tanzt mit ihm, Tango, Tango, die Zeit steht still. Ein ausgesparter Ehebruch, das erlaubt die Zensur nicht, dann treffen wir sie wieder, die schöne Bianca, den schönen Rodolfo. Küsse, Tränen, viele Tränen, über ihre schicksalhafte geächtete Liebe. Zwischentitel: "Die Scheidung!" Rodolfo und Bianca stellen Jack eine Falle. Der Köder - Joan Sawyer, die Tänzerin. Der Satyr beißt an. Man ertappt ihn in flagranti, Bianca reicht die Scheidung ein, nichts steht dem Glück im Wege. Aber Schnitt! Ein grimmiger Detective bei Rodolfo. "Sie sind ein professioneller Intrigant! Sie inszenieren Ehebrüche gegen schnöde Dollars!" Rodolfo muss vor Gericht. Dann flieht er aus New York. Er tanzt den Tango, traurig und schön, el Choclo, la Cumparsita, in Providence, Pittsburgh, Philadelphia. Bianca ist geschieden, doch noch immer kocht ihr kreolisches Blut. Fest schließt sie ihre kleine weiße Hand um einen Revolver und schießt Jack de Saulles eine Kugel zwischen seine verhassten Augen. Blende: Rodolfo schreit einen stummen Schrei. Blende: Bianca im Kerker. Blende: Rodolfo steigt in den Zug. "Untreu! Auch du!", empört sich der Zwischentitel. Rodolfos Zug fährt nach Westen, weit fort, und für immer, von der schönen Mörderin Bianca de Saulles.

Erzählerin:
Rodolfo di Valentinas erster Film? Leider eine wahre Geschichte. Rodolfo ist so erschüttert über Biancas Verbrechen, dass er eine Weile ernsthaft vorhat, Farmer zu werden, irgendwo im sonnigen Kalifornien. Dies sieht das Drehbuch jedoch nicht vor. Tangolehrer, Chorus Boy in San Francisco – und dann, im Winter 1917, mit 22 Jahren, erreicht Rodolfo di Valentina endlich seinen Bestimmungsort: im Gefolge einer reisenden Revue von Al Jolson setzt er seinen Lackschuh auf geweihten Boden: Los Angeles, Hollywood.

Die Tore der Traumfabrik öffnen sich nur zögerlich. Wochenlang steht er Schlange vor Studiotüren und keiner will ihn haben. Eine winzige Nebenrolle, dann lange gar nichts. Rodolfo muss wieder tanzen, und er muss auch wieder Kundinnen empfangen in seinem kleinen Hotelzimmer und viel zu kleinen Bett. Beinahe wäre er aus lauter Verzweiflung Aktmodell in der Kunstakademie geworden, aber die Vorstellung, dass dort Männer seinen Luxuskörper begaffen mit zweifelhaften Hintergedanken, erschreckt ihn dann doch zu sehr. Als sich sein Glück zum ersten Mal wendet, ist es wieder der Tango. Die Schauspielerin Mae Murray, ein fast erstrangiger Filmstar, ist von den Tanzkünsten und den schwarzen Augen des Gigolo so angetan, dass dieser plötzlich eine Hauptrolle hat, und dann gleich eine zweite: schöne, alberne, langvergessene Filme. Der Gigolo küsst Mae Murray so sehr, dass der Kameramann errötet. Er nennt sich nun Rudolph Valentino, Rudy für seine Freunde; fast amerikanisch. Er kauft sich ein Auto, zwei weiße Wolfshunde und einen weißen Badeanzug und macht am Strand von Santa Monica Leibesübungen. Noch ein Film, dann plötzlich nichts mehr. Das Glücksrad von Hollywood dreht sich schneller als die Kurbeln der Kameras. Probeaufnahmen für den berühmten Regisseur D.W. Griffith, aber der große Griffith will Rudy nicht haben. Ein bisschen weniger Grimassen, ein bisschen weniger Fuchtelei, dann wäre der Junge ganz brauchbar, sagt Griffith. Valentino verkauft sein Auto, er verkauft seine Hunde, er bekommt die spanische Grippe, Alla Nazimova, der russische Star, nennt ihn vor Publikum eine männliche Hure, und dann - und das ist die Krönung dieser unglückseligen Tage - heiratet er plötzlich Jean Acker. Jean ist hübsch, Schauspielerin mit guten Beziehungen, Rudy reitet mit ihr aus im Mondenschein und wundert sich, leider zu wenig, über ihre Garderobe: Schlips und Kragen, dunkle Anzüge, Lackschuhe wie Rudy, nur kleiner ... Sie kennen sich kaum eine Woche, dann treten sie vor den Altar. Warum? Das ist nicht überliefert. In der Hochzeitsnacht erinnert sich Jean, dass sie lesbisch ist, schimpft schrecklich und läuft davon. Gibt es etwas Schlimmeres für einen Mann, einen richtigen Mann, aus Castellaneta? Rudy weint, schreit, tobt. Plötzlich bekommt er wieder Rollen, belanglos, aber anständig bezahlt. Er filmt in Hollywood und New York. Er schläft mit vielen Mädchen, bis er sich ein bisschen erholt hat von Jean Acker, dem ihm angetrauten Schandfleck aller Weiblichkeit.

Seine schönste Rolle und gleichzeitig seinen Durchbruch hat Valentino auch einer Frau zu verdanken: June Mathis, der berühmtesten Drehbuchautorin von Amerika. Sie arbeitet an dem Skript für die Verfilmung des Bestsellers von Vicente Blasco Ibanez, "Die vier Reiter der Apokalypse", das erste Millionenprojekt der Filmgeschichte, ein großartiges Epos über den Krieg und die Liebe, über Familienfehden und den Untergang von Europa, inklusive einem Gastauftritt von Jesus persönlich und allen vier apokalyptischen Reitern, die über den Himmel und durch die Wolken preschen dank modernster Special Effects. Regisseur ist Rex Ingram, ein talentierter junger Mann, der in Wirklichkeit Reginald Hitchcock heißt, es aber vorzog, sich umzutaufen, da er Hitchcock zu abgeschmackt fand für einen Filmregisseur. June Mathis sah ein Minütchen Rodolfo in irgendeinem gleichgültigen Film und war sofort überzeugt: Dieser Junge ist ein Star, er ist Julio in "The Four Horsemen of the Apocalypse" – und seine arg barocke Körpersprache wird ihm Rex Ingram schon abgewöhnen. Er hat sie ihm wirklich abgewöhnt. Ingram ist ein exzellenter Regisseur – der beste der Welt, sagt Erich von Stroheim – und Rudy ein exzellenter Schauspieler. Wenn man heute nachfühlen möchte, warum er die Massen in Raserei versetzte, möge man diesen Film anschauen und einen weiten Bogen machen um alle Scheiche und sonstige Grotesken. Valentinos Julio, ein schillernder Jüngling, der sich nahtlos und fast natürlich vom nichtsnutzigen argentinischen Upperclass-Gaucho in einen tragischen Pariser Beau und schließlich in einen Soldaten verwandelt, der Kanonenfutter wird, ohne zu begreifen, wie ihm geschieht, ist eine brillante Figur. Er spielt sie zurückgenommen, beinahe unschuldig, fast als wisse er nicht um die Kamera; so kennt man Valentino sonst nicht. Den Tango tanzt er auch, und im Schützengraben, kurz vor dem Ende, sieht man auf seinen Wangen den schönsten und unmöglichsten Bartschatten der Filmgeschichte.

Kritiker und Publikum des Jahres 1921 haben einen guten Geschmack. Der Film ist ein Millionenerfolg, und Rudolph Valentino ein Star, in Amerika und in Europa, der Film reitet schneller als der Krieg. Achtzehn Mann stehen im Londoner "Palace" hinter der Leinwand und machen die Toneffekte: 23 Trommeln verschiedener Größe, Pistolenschüsse, Granatengeheul, verpuffendes Magnesium und Gartenschlauchregen auf Wachstuch, Knallfrösche, die in Ölfässern knattern, und eine große Pressluftmaschine für das Grunzen des mystischen Ungeheuers des Krieges.

Neue Autos, neue Mädchen, neue Hunde, Fanpost und Tangos, aber nur zum Vergnügen; nun ist es an der Zeit, Rache zu üben an Alla Nazimova. Eine Hure hat sie Rudy genannt, damals in Santa Monica, und mit seiner Gattin Jean Acker hat sie wohl auch geschlafen – jetzt ist sie plötzlich seine Partnerin, in Ray Smallwoods Film "Camille". Sie sitzt schon im Studio. Valentino kommt nicht. Die Nazimova schäumt. Die Leute am Set gehen in Deckung. Die Nazimova schreit. Valentino kommt nicht. Wer meint er, dass er ist, der verdammte Gigolo, die große Nazimova warten zu lassen? Ein junger Mann namens Harry – er hat die Geschichte erzählt – geht schließlich schauen. Er findet Valentino auf dem satinbezogenen Sofa in der Garderobe, hinter unverschlossener Tür, in eindeutiger Stellung mit einer Frau, die der Nazimova gehört: Natacha Rambova "Natatscha , genannt "der Eiszapfen", völlig geschmolzen in Rudys Armen. Sie ist die Assistentin, Freundin, Kostümbildnerin der Nazimova. Sie heißt in Wirklichkeit Winifred O'Shaunessy De Wolfe Hudnut und ist die Stieftochter eines Kosmetik-Tycoons. Sie seufzt auf Rudys Sofa. Im Studio tobt die Nazimova. Rudy lächelt, küsst Natacha die Hand, zieht sich an und geht an die Arbeit. Der Tobsuchtsanfall der Nazimova hat ihre Schminke ruiniert. Rudolph Valentino ist makellos, das Makeup perfekt, kein Härchen weht auf seinem gelackten Kopf. Ein Sieg? Er ist teuer erkauft. Rudy verliebt sich in Natacha, und das ist keine gute Idee.

Der berühmte Bigamie-Prozess – er heiratet Natacha Rambova, bevor er richtig von Jean Acker geschieden ist, bürokratische Details sind ihm fremd – ist noch das geringste Übel: Die Machenschaften der schrecklichen Natacha begleiten Rudys gesamte Karriere, und es ist nur der Treue seiner Fans zu verdanken, dass man ihn nicht vorzeitig in Rente schickt. Natacha treibt jeden Regisseur und Produzenten, der mit Vatentino arbeitet, in den Wahnsinn. Die Sklavenkette aus Platin, die sie ihrem Mann eines Weihnachtsmorgens ums Handgelenk legt, kommt nicht von ungefähr: Natacha ist eine Despotin, und sie hält ihren Rudy strenger als Scheich Ahmed seine schöne Diana. Kein Skript, keine Kulisse, kein Regieeinfall, der nicht Natachas Segen braucht. Kein Drehtag ohne Natacha. Sie hat einen hohen Kunstanspruch. Den Scheich nennt sie "bullshit", vielleicht nicht ganz zu Unrecht, aber der Markt widerlegt sie. Für Valentinos Film "The Young Rajah" entwirft sie Kostüme, die den Regisseur erst in den Lach- dann in den Schreikrampf treiben; Rudy trägt fromm den klimpernden Lendenschurz aus Perlen, den ihm seine Gattin umlegt, und es ist nur seinem Charme und seinen schönen Beinen zu verdanken, dass die Leute nicht aus den Kinos laufen. Natacha zieht alle Register. Sie schleppt ihren Mann zu Séancen, bei denen er sich zu Tode fürchtet – nachher hat er einen Schutzgeist, "Black Feather", ein toter Indianer, und dieser ist immer Natachas Meinung. Vier Jahre dauert Valentinos zweite Ehe. Vielen Leuten kommt das vor wie ein halbes Jahrhundert. Ist der Pascha mit der Sklavenkette vielleicht ein Masochist? Die Fortsetzung des Films "Der Scheich", "The Son of the Sheik", gilt bis heute als Geheimtip für Leute mit solchen Neigungen. Halbnackt und in Ketten wird Rudy hier ausgepeitscht – ausgiebig, lautlos, die Szene ist ziemlich lang. Schuld an der Misshandlung ist Diana; später kriecht sie vor ihm im Staub und er zeigt ihr seine Striemen, schwarze Risse auf weißer Haut, blutiges Zeluloid. Das Drehbuch ist seltsam verwaschen. Rudys Wunden haben einen seltsamen Zauber. Wer hat für diesen Film geseufzt, und warum, in den dunklen Kinosälen der 20er Jahre? Möchte man erklären, was das Wort "Subtext" bedeutet, sind Valentinos Filme nicht das schlechteste Beispiel.

Vexierspiele, vertrackte Erotik, ein Traumbild zu jedermanns freier Verfügung: Man wird den Verdacht nicht los, dass den Jungen aus Castellaneta dieses unwirkliche Dasein ein wenig überfordert. Wo ist Rodolfo geblieben, in all dem Geflacker, auf der Leinwand und in den gierigen Herzen von Millionen fremder Leute? Die öffentlichen Ekstasen im Fall Valentino sind legendär, ohne mehrere Bodyguards kann er nach dem "Scheich" nicht mehr auf die Straße. Sie seufzen nicht, seine Fans, sie schreien – zumindest die Frauen; ein paar fehlgeleitete Männer seufzen vielleicht heimlich, aber daran möchte Rudy gar nicht denken. Wie steht es um die Mannesehre, bei einem solchen Beruf? Hilft es, wenn man täglich Liegestütze macht und Boxunterricht nimmt beim großen Jack Dempsey? So sieht sich Valentino am liebsten: in der Turnhose, ungeschminkt, ein ganzer Kerl; aber auch diese Lichtbilder gehören den Massen, und wer sie aus der Zeitung schneidet und warum, darauf hat Rodolfo keinen Einfluss.

Im Sommer 1926 holen ihn seine Ängste schließlich ein. Die Chicago Tribune publiziert einen Artikel, in dem der Niedergang der Vereinigten Staaten zwei Perversionen angelastet wird: Der Installation von Makeup-Spendern in Herrentoiletten und Rudolph Valentino. Von "so genannten Männern" ist die Rede, von Weichlingen, von rosa Puderquasten; Rudy trägt das nicht mit Fassung. Er schäumt, schreit, zerfetzt die Zeitung. Er fordert den Schreiberling jener Zeilen in einem offenen Brief zum Duell im Boxring. Die Presse frohlockt. Valentino bekommt keine Antwort. Er boxt mit einem anderen Journalisten und gewinnt, aber das ist alles nur inszeniert. Rudy ist nicht glücklich. Er macht tapfer weiter. Partys, Filme, wieder ein Scheich, und Monsieur Beaucaire, der androgyne Liebesgott, ein Rokoko-Traum, schön und schwül und traurig wie ein Gemälde von Watteau. Rudy ist zum zweiten Mal geschieden. Fast unmerklich lichten sich seine Haare. Er fährt im Sportwagen, viel zu schnell, er wird verunglücken, sagen die Leute, er bringt sich um, "live hard, die young", der Spruch ist noch nicht erfunden. Rudy hat acht Pferde, zwölf Hunde, Affen und Papageien, er hat ein Haus mit sechzehn Zimmern, fünfzig Anzüge, Manschettenknöpfe, Krawattennadeln, Uhren, alles mit Brillanten. Er hat eine neue Freundin, Pola Negri. Das Leben ein Film? Der Film das Leben? Wie sollen sie das wissen, Rudy, Pola, die Königskinder aus Zelluloid? Manchmal schreibt Valentino Gedichte. Sie liegen unter den Kopfkissen der Fans. Hat sie Walt Whitmans Geist diktiert, wie Natacha behauptete, oder sucht der stumme Rudy nach Worten?

Zitator:
Glück? Du wartest –
irgendwo, irgendwo ...
Wir wissen nicht wo,
wir wissen nicht wie
wir dich finden, und ob –
doch wir wissen –
du wartest, wartest ... irgendwo ...

Am 23. August 1926, vor fünfundsiebzig Jahren, ist Rudolph Valentino gestorben. Er war einunddreißig Jahre alt. Eine Blinddarmentzündung, Endokarditis – ein früher, friedlicher Tod in einem New Yorker Krankenhaus, zwei Jahre vor Erfindung des Tonfilms und Entdeckung des Penicillins. Tränen, viele Tränen. Ein paar Mädchen nehmen sich still das Leben. Pola Negri bricht schreiend zusammen, dann spielt sie die Witwe – ihre schönste Rolle, sagen die Lästerer. Zigtausende beim Begräbnis, ein Blumenmeer, apokalyptischer Regen. "Der Himmel weint", schreien die Fans und drücken die Glasscheibe ein, hinter der er aufgebahrt liegt: Einbalsamiert, im Frack, in einem Sarg aus Bronze, schön wie einst, stumm wie einst, jung und tot und unsterblich. Berittene Gendarmerie hält den Mob im Zaum. Schon gibt es die üblichen Gerüchte: Er ist erschossen worden, erstochen, vergiftet, er lebt noch, im Sarg liegt eine Puppe. Unbeirrt flattert Scheich Ahmeds Burnus im Wüstenwind. Spiritistinnen in aller Welt unterhalten sich mit Rudys Geist, tiefsinnige, romantische Gespräche. Wie haben sie seine Stimme erkannt, im Gemurmel all der Toten? Der größte Filmstar der Welt ist verblichen, ohne ein gesprochenes Wort zu hinterlassen. Allerdings ein paar gesungene: Im Frühling 1923 ließ sich Valentino überreden, in einen schwarzen Trichter in den Brunswick Studios zu singen. "Oh weh", seufzte Rudy, als er diese Aufnahmen hörte, "da geht sie hin, meine Opernkarriere!" - und er blieb fortan bei seiner angestammten Profession: ein Fabelwesen ohne Stimme, zu schön um wahr zu sein, ein Prinz aus Zelluloid.

 

 

 






© 2004 by Christine Wunnicke