Erzählerin:
Lochblende. Die Wüste Sahara. Lady Diana, die schöne Touristin
aus England, hoch zu Ross unterwegs über eine weiße Leinwand.
Ihr Schicksal lauert hinter einer Düne, Ahmed Ben Hassan, der
Scheich. Seine Nasenflügel zittern. Er fletscht die Zähne.
Schon im Casino von Biskra hat der Unhold seine Beute erspäht,
vorgestern, als "Halima, die lieblichste Blume Arabiens"
für ihn tanzte. Nun ist Diana fällig. Der Scheich springt
auf seinen weißen Hengst, eine wilde Jagd, die Windmaschine
peitscht den Sand der Sahara, ein Märchen aus Licht, auf Zelluloid
gebannt in Yuma/Arizona. Diana gibt ihrem Pferd die Sporen. Ahmed
greift ihr in die Zügel. Diana zieht ihre kleine Pistole, schießt,
trifft nicht, schreit einen stummen Schrei. Ahmed zerrt sie auf sein
Pferd. "Lieg still, kleine Närrin", rät der Zwischentitel,
die Lady verliert die Besinnung. "Warum brachtest du mich hier
her?", wimmert Dianas Zwischentitel, als sie in Ahmeds Lager
angekommen sind. Ahmed lächelt ein schlimmes Lächeln: "Bist
du nicht Frau genug, das zu wissen?"
Zitator:
Sie starrte ihn an, trockenen Auges, denn weinen konnte sie nicht
mehr; längst vergossen hatte sie all ihre Tränen, als sie
zu seinen Füßen im Staube kroch und um Gnade bettelte,
die er ihr nicht gewährte. Sie hatte mit ihm gerungen in einem
ungleichen Kampf, bis sie hilflos in seine Arme sank, ihr ganzer Körper
nichts als Schmerz, Schmerz unter seinen brutalen Händen, die
sie zu Gehorsam zwangen und ihren Willen gebrochen hatten. Ahmed Ben
Hassan beugte sich über sie und zog ihre Hände langsam hinauf
zu seiner Brust. "Komm", murmelte er und verschlang sie
mit Blicken der Leidenschaft. Fruchtlos war ihr Kampf gegen seine
Grausamkeit, seine Magie; sie lag zitternd in seinen Armen. "Kleiner
Dummkopf", flüsterte der Scheich, "besser ich als meine
Männer!" Dieser Hohn brach ihr Schweigen. "Oh, du Tier!
Du Tier!", schrie sie auf bis seine Küsse ihre Lippen
verschlossen.
Erzählerin:
Als
Edith Maude Winstanley, die ältliche Gattin eines Schweinezüchters
im englischen Derbyshire, diese sadomasochistische Idylle 1919 zu
Papier brachte, konnte sie nicht ahnen, welchen Millionenerfolg sie
in Händen hielt - und welchen Wahnsinn die Untaten ihres Scheichs
erst auslösen würden, sobald der Romanbestseller seinen
Weg auf die Leinwand gefunden hatte. Selten hatte ein Werbeslogan
solch prophetische Qualitäten wie jener, den Paramount 1921 für
den Film ersann: "Shriek for the Sheik" - "Kreisch
für den Scheich": Denn so viel gekreischt, gestöhnt
und kollabiert wurde nie zuvor und selten danach im Kino; Ekstasen,
ein kollektiver Liebesakt mit einem bewegten Lichtbild namens Rudolph
Valentino. So wie Lady Diana dem Scheich zu Willen ist, so unterwirft
sich Valentino der Zuschauerin; wehrlos und stumm, käuflich um
den Preis einer Kinokarte. Eine zivilierte Bestie. Der Sexgott, der
durch die Wüste schleicht, als sei das die Tanzfläche von
Delmonico´s Cabaret. Der Scheich trägt eine Armbanduhr
von Cartier, die der Regisseur übersah, mehr Lippenstift als
Gloria Swanson, und in manchen Momenten sieht er aus, als sei er Lady
Dianas Schwester.
Arabischer
Nippes, arabische Mode werden der letzte Schrei. Amerikanische Psychiater
publizieren wissenschaftliche Artikel über das Phänomen
Scheich: "Unreife Sexualität"; "Kontrollverlust";
"öffentliche Hysterie". Das Wort "Sheik"
bekommt eine neue Bedeutung: Der Mann von Welt, der perfekte Liebhaber,
einer, der cool ist, schick und up to date, einer, dessen Haarpomade
fast so glänzt wie jene des Gottes Valentino das ist ab
sofort ein "Sheik". 125 Millionen sehen den Film. Valentino
sortiert seine Fanpost - oft liegen Höschen bei, oder Stoffschnipsel
von solchen, mit der Bitte sie zu berühren, mit den Lippen wenn
möglich, und sie dann zurückzusenden, Umschlag liegt bei.
Unbeirrt flattert Scheich Ahmeds Burnus im Wüstenwind. Mrs. Winstanley
staunt über ihre Tantiemen und macht sich an die Fortsetzung
des Romans. "Der Inbegriff einer schlechten schauspielerischen
Leistung", mault Valentino über Valentino, "warum eigentlich
diese ständige Augenrollerei?"
Zwei
große Ereignisse prägen das Jahr 1895: Im indischen Salon
des Grand Café des Capucines in Paris findet die erste öffentliche
Vorführung des Kinematographen der Brüder Lumière
statt, was heute als Geburtsstunde des Kinos gilt und in Castellaneta,
einem sehr langweiligen Städtchen im sehr südlichen Italien,
bekommt die Frau des Tierarztes Guglielmi einen Sohn. An seinem Taufbecken
steht eine gute Fee und diktiert die Namen: Es ist aktenkundig, das
Baby heißt Rodolfo Alfonso Rafaello Pierre Filibert Guglielmi
di Valentina d'Antonguolla. Der Knabe hat es eilig, ein Mann zu werden:
Mit fünf versucht er sich zu rasieren, die Narbe auf der Wange
sieht man in allen seinen Filmen, und sie stammt nicht, wie er später
gerne behauptet, von einem galanten Duell im Bois de Bologne. Rodolfo
schwänzt die Schule, träumt vor sich hin, wird immer hübscher.
Als man den Teenager in Taranto auf die Landwirtschaftsschule schickt,
ist er längst das Sorgenkind der Familie. Seine Lehrer wissen
nicht, ob er faul ist, dumm oder beides; sie halten ihre Töchter
unter Verschluss, denn der kleine Guglielmi sammelt Mädchen.
Wenn er nicht gerade über Dachfirste balanciert, um die minderjährigen
Schönheiten von Taranto zu beglücken, sitzt er meistens
im Arrest und büßt seine Sünden. König Vittorio
Emanuele kommt nach Taranto. Man schließt den schwererziehbaren
Rodolfo im Schlafsaal ein, ohne Hosen, damit er nicht entkommt. Er
flieht durchs Fenster, stiehlt einen Degen aus der schuleigenen Waffenkammer
und einen Esel aus dem schuleigenen Stall, und er reitet dem König
entgegen, in der Wäsche, den blanken Degen in der Hand. Grandezza.
Am nächsten Tag fliegt er von der Schule.
Der
Vater ist gestorben. Die Mutter sorgt sich um Rodolfo, bekocht ihn,
steckt ihm Geld zu, betet den Rosenkranz. Rodolfo mag nichts lernen.
Er will Held werden, Bandit, König, Scheich, Pirat zur
Not auch Marineoffizier. Er wird ausgemustert: zu schmächtig,
zwei Zentimeter fehlen zum vorgeschriebenen Brustumfang. Rodolfo ist
tief gekränkt. Was hat Italien noch zu bieten? Er will auswandern.
Mutter vergießt bittere Tränen, aber Nachbarn und Verwandte
sind so angetan von dieser Idee, dass sie fast eine Kollekte für
seine Reisekosten veranstaltet hätten. Im Dezember 1913 geht
Rodolfo Guglielmi an Bord der "Cleveland" und bricht auf
nach New York, um dort sein Glück zu machen.
Es
ist eine harte Zeit. Rodolfo arbeitet als Tellerwäscher, Straßenkehrer,
Botenjunge, pflückt Räupchen von den Rosenblättern
im Central Park. Ein falsches Wort vom Chef, und Rodolfo faucht italienische
Flüche, er ist jeden Job gleich wieder los. Er klaut Papier aus
feinen Hotels und schreibt darauf Briefe an Mama. Zeitweise schläft
er auf Parkbänken. Zeitweise hat er Lust, sich im Hudson River
zu ertränken. Er bekommt eine Anstellung als Gärtnersgehilfe
bei einem Millionär auf Long Island, beobachtet die feinen Leute,
lernt viel dazu, Manieren und Englisch. Jemand leiht ihm ein Motorrad,
er fährt es zu Schrott auf dem Anwesen, das kostet ihn wieder
den Job. Die Mädchen mögen ihn noch immer, aber davon kann
man nicht leben. Oder doch? Amerikanische Damen zahlen in Bar. Sie
zahlen erst für den Tango und dann für die Liebe, im Maxim´s,
im Delmonico´s, im Bustanoby´s, weiblicher Kapitalismus,
erschreckende Emanzipation. Die Liebe beherrscht Rodolfo schon, den
Tango lernt er schnell. Sollte er in der ersten Kunst ebenso virtuos
gewesen sein wie in der zweiten, so darf man seine Kundinnen beneiden;
wenn Rodolfo den Tango tanzt, ist er unvergleichlich, es ist mehrfach
auf Zelluloid gebannt, und selbst ohne Musik, wenn nur der Projektor
schnurrt, schmilzt man dahin, wenn er tanzt - sogar heute, im kühlen
21. Jahrhundert. "Schöner Gigolo - armer Gigolo..."
kein Job, um ihn Mama allzu genau zu beschreiben. Bald tritt
er auch auf als Partner der berühmten Tänzerin Joan
Sawyer; Vaudeville, Cabarets sein Marktwert steigt. Mister
Guglielmi. Die Damen von New York tun ihr bestes, aber sie verknoten
sich die Zunge bei diesem Namen. Er klingt wie "Gack-Lemmy".
Das gefällt dem Tänzer nicht. Er nennt sich fortan Rodolfo
di Valentina, und dann trifft er eines Abends Bianca de Saulles: Eine
Romanze beginnt, wie sie Hollywood nicht schöner erfinden könnte.
Zitator:
Lochblende.
Hochsommer in Chile. Kakteen, in der Ferne die Anden. Señorita
Bianca Errazuriz, die Haut weiß wie Schnee, das Haar schwarz
wie Ebenholz, sitzt auf der Veranda der mütterlichen Hacienda.
Auf Dienstreise in Chile: Der Amerikaner Jack de Saulles. Athletisch,
elegant, Football-Champion, Wall Street-Banker. Er sieht Bianca und
entflammt. Sie flieht: nach Europa, Spanien, Frankreich. Jack jagt
sie, bedroht sie, beschenkt sie, schließlich heiratet er sie
in Paris. Daheim in New York entpuppt er sich als Bösewicht.
Er betrügt sie. Er verspottet sie. Er läßt sie allein
in einem Haus voller Marmor, Pekinesen und Antiquitäten und vergnügt
sich mit den Schlampen der Ziegfeld Follies. Bianca geht ins Maxim´s.
Ein schöner Jüngling mit feurigem Blick. Bianca tanzt mit
ihm, Tango, Tango, die Zeit steht still. Ein ausgesparter Ehebruch,
das erlaubt die Zensur nicht, dann treffen wir sie wieder, die schöne
Bianca, den schönen Rodolfo. Küsse, Tränen, viele Tränen,
über ihre schicksalhafte geächtete Liebe. Zwischentitel:
"Die Scheidung!" Rodolfo und Bianca stellen Jack eine Falle.
Der Köder - Joan Sawyer, die Tänzerin. Der Satyr beißt
an. Man ertappt ihn in flagranti, Bianca reicht die Scheidung ein,
nichts steht dem Glück im Wege. Aber Schnitt! Ein grimmiger Detective
bei Rodolfo. "Sie sind ein professioneller Intrigant! Sie inszenieren
Ehebrüche gegen schnöde Dollars!" Rodolfo muss vor
Gericht. Dann flieht er aus New York. Er tanzt den Tango, traurig
und schön, el Choclo, la Cumparsita, in Providence, Pittsburgh,
Philadelphia. Bianca ist geschieden, doch noch immer kocht ihr kreolisches
Blut. Fest schließt sie ihre kleine weiße Hand um einen
Revolver und schießt Jack de Saulles eine Kugel zwischen seine
verhassten Augen. Blende: Rodolfo schreit einen stummen Schrei. Blende:
Bianca im Kerker. Blende: Rodolfo steigt in den Zug. "Untreu!
Auch du!", empört sich der Zwischentitel. Rodolfos Zug fährt
nach Westen, weit fort, und für immer, von der schönen Mörderin
Bianca de Saulles.
Erzählerin:
Rodolfo
di Valentinas erster Film? Leider eine wahre Geschichte. Rodolfo ist
so erschüttert über Biancas Verbrechen, dass er eine Weile
ernsthaft vorhat, Farmer zu werden, irgendwo im sonnigen Kalifornien.
Dies sieht das Drehbuch jedoch nicht vor. Tangolehrer, Chorus Boy
in San Francisco und dann, im Winter 1917, mit 22 Jahren, erreicht
Rodolfo di Valentina endlich seinen Bestimmungsort: im Gefolge einer
reisenden Revue von Al Jolson setzt er seinen Lackschuh auf geweihten
Boden: Los Angeles, Hollywood.
Die
Tore der Traumfabrik öffnen sich nur zögerlich. Wochenlang
steht er Schlange vor Studiotüren und keiner will ihn haben.
Eine winzige Nebenrolle, dann lange gar nichts. Rodolfo muss wieder
tanzen, und er muss auch wieder Kundinnen empfangen in seinem kleinen
Hotelzimmer und viel zu kleinen Bett. Beinahe wäre er aus lauter
Verzweiflung Aktmodell in der Kunstakademie geworden, aber die Vorstellung,
dass dort Männer seinen Luxuskörper begaffen mit zweifelhaften
Hintergedanken, erschreckt ihn dann doch zu sehr. Als sich sein Glück
zum ersten Mal wendet, ist es wieder der Tango. Die Schauspielerin
Mae Murray, ein fast erstrangiger Filmstar, ist von den Tanzkünsten
und den schwarzen Augen des Gigolo so angetan, dass dieser plötzlich
eine Hauptrolle hat, und dann gleich eine zweite: schöne, alberne,
langvergessene Filme. Der Gigolo küsst Mae Murray so sehr, dass
der Kameramann errötet. Er nennt sich nun Rudolph Valentino,
Rudy für seine Freunde; fast amerikanisch. Er kauft sich ein
Auto, zwei weiße Wolfshunde und einen weißen Badeanzug
und macht am Strand von Santa Monica Leibesübungen. Noch ein
Film, dann plötzlich nichts mehr. Das Glücksrad von Hollywood
dreht sich schneller als die Kurbeln der Kameras. Probeaufnahmen für
den berühmten Regisseur D.W. Griffith, aber der große Griffith
will Rudy nicht haben. Ein bisschen weniger Grimassen, ein bisschen
weniger Fuchtelei, dann wäre der Junge ganz brauchbar, sagt Griffith.
Valentino verkauft sein Auto, er verkauft seine Hunde, er bekommt
die spanische Grippe, Alla Nazimova, der russische Star, nennt ihn
vor Publikum eine männliche Hure, und dann - und das ist die
Krönung dieser unglückseligen Tage - heiratet er plötzlich
Jean Acker. Jean ist hübsch, Schauspielerin mit guten Beziehungen,
Rudy reitet mit ihr aus im Mondenschein und wundert sich, leider zu
wenig, über ihre Garderobe: Schlips und Kragen, dunkle Anzüge,
Lackschuhe wie Rudy, nur kleiner ... Sie kennen sich kaum eine Woche,
dann treten sie vor den Altar. Warum? Das ist nicht überliefert.
In der Hochzeitsnacht erinnert sich Jean, dass sie lesbisch ist, schimpft
schrecklich und läuft davon. Gibt es etwas Schlimmeres für
einen Mann, einen richtigen Mann, aus Castellaneta? Rudy weint, schreit,
tobt. Plötzlich bekommt er wieder Rollen, belanglos, aber anständig
bezahlt. Er filmt in Hollywood und New York. Er schläft mit vielen
Mädchen, bis er sich ein bisschen erholt hat von Jean Acker,
dem ihm angetrauten Schandfleck aller Weiblichkeit.
Seine
schönste Rolle und gleichzeitig seinen Durchbruch hat Valentino
auch einer Frau zu verdanken: June Mathis, der berühmtesten Drehbuchautorin
von Amerika. Sie arbeitet an dem Skript für die Verfilmung des
Bestsellers von Vicente Blasco Ibanez, "Die vier Reiter der Apokalypse",
das erste Millionenprojekt der Filmgeschichte, ein großartiges
Epos über den Krieg und die Liebe, über Familienfehden und
den Untergang von Europa, inklusive einem Gastauftritt von Jesus persönlich
und allen vier apokalyptischen Reitern, die über den Himmel und
durch die Wolken preschen dank modernster Special Effects. Regisseur
ist Rex Ingram, ein talentierter junger Mann, der in Wirklichkeit
Reginald Hitchcock heißt, es aber vorzog, sich umzutaufen, da
er Hitchcock zu abgeschmackt fand für einen Filmregisseur. June
Mathis sah ein Minütchen Rodolfo in irgendeinem gleichgültigen
Film und war sofort überzeugt: Dieser Junge ist ein Star, er
ist Julio in "The Four Horsemen of the Apocalypse"
und seine arg barocke Körpersprache wird ihm Rex Ingram schon
abgewöhnen. Er hat sie ihm wirklich abgewöhnt. Ingram ist
ein exzellenter Regisseur der beste der Welt, sagt Erich von
Stroheim und Rudy ein exzellenter Schauspieler. Wenn man heute
nachfühlen möchte, warum er die Massen in Raserei versetzte,
möge man diesen Film anschauen und einen weiten Bogen machen
um alle Scheiche und sonstige Grotesken. Valentinos Julio, ein schillernder
Jüngling, der sich nahtlos und fast natürlich vom nichtsnutzigen
argentinischen Upperclass-Gaucho in einen tragischen Pariser Beau
und schließlich in einen Soldaten verwandelt, der Kanonenfutter
wird, ohne zu begreifen, wie ihm geschieht, ist eine brillante Figur.
Er spielt sie zurückgenommen, beinahe unschuldig, fast als wisse
er nicht um die Kamera; so kennt man Valentino sonst nicht. Den Tango
tanzt er auch, und im Schützengraben, kurz vor dem Ende, sieht
man auf seinen Wangen den schönsten und unmöglichsten Bartschatten
der Filmgeschichte.
Kritiker
und Publikum des Jahres 1921 haben einen guten Geschmack. Der Film
ist ein Millionenerfolg, und Rudolph Valentino ein Star, in Amerika
und in Europa, der Film reitet schneller als der Krieg. Achtzehn Mann
stehen im Londoner "Palace" hinter der Leinwand und machen
die Toneffekte: 23 Trommeln verschiedener Größe, Pistolenschüsse,
Granatengeheul, verpuffendes Magnesium und Gartenschlauchregen auf
Wachstuch, Knallfrösche, die in Ölfässern knattern,
und eine große Pressluftmaschine für das Grunzen des mystischen
Ungeheuers des Krieges.
Neue
Autos, neue Mädchen, neue Hunde, Fanpost und Tangos, aber nur
zum Vergnügen; nun ist es an der Zeit, Rache zu üben an
Alla Nazimova. Eine Hure hat sie Rudy genannt, damals in Santa Monica,
und mit seiner Gattin Jean Acker hat sie wohl auch geschlafen
jetzt ist sie plötzlich seine Partnerin, in Ray Smallwoods Film
"Camille". Sie sitzt schon im Studio. Valentino kommt nicht.
Die Nazimova schäumt. Die Leute am Set gehen in Deckung. Die
Nazimova schreit. Valentino kommt nicht. Wer meint er, dass er ist,
der verdammte Gigolo, die große Nazimova warten zu lassen? Ein
junger Mann namens Harry er hat die Geschichte erzählt
geht schließlich schauen. Er findet Valentino auf dem
satinbezogenen Sofa in der Garderobe, hinter unverschlossener Tür,
in eindeutiger Stellung mit einer Frau, die der Nazimova gehört:
Natacha Rambova "Natatscha , genannt "der Eiszapfen",
völlig geschmolzen in Rudys Armen. Sie ist die Assistentin, Freundin,
Kostümbildnerin der Nazimova. Sie heißt in Wirklichkeit
Winifred O'Shaunessy De Wolfe Hudnut und ist die Stieftochter eines
Kosmetik-Tycoons. Sie seufzt auf Rudys Sofa. Im Studio tobt die Nazimova.
Rudy lächelt, küsst Natacha die Hand, zieht sich an und
geht an die Arbeit. Der Tobsuchtsanfall der Nazimova hat ihre Schminke
ruiniert. Rudolph Valentino ist makellos, das Makeup perfekt, kein
Härchen weht auf seinem gelackten Kopf. Ein Sieg? Er ist teuer
erkauft. Rudy verliebt sich in Natacha, und das ist keine gute Idee.
Der
berühmte Bigamie-Prozess er heiratet Natacha Rambova,
bevor er richtig von Jean Acker geschieden ist, bürokratische
Details sind ihm fremd ist noch das geringste Übel: Die
Machenschaften der schrecklichen Natacha begleiten Rudys gesamte Karriere,
und es ist nur der Treue seiner Fans zu verdanken, dass man ihn nicht
vorzeitig in Rente schickt. Natacha treibt jeden Regisseur und Produzenten,
der mit Vatentino arbeitet, in den Wahnsinn. Die Sklavenkette aus
Platin, die sie ihrem Mann eines Weihnachtsmorgens ums Handgelenk
legt, kommt nicht von ungefähr: Natacha ist eine Despotin, und
sie hält ihren Rudy strenger als Scheich Ahmed seine schöne
Diana. Kein Skript, keine Kulisse, kein Regieeinfall, der nicht Natachas
Segen braucht. Kein Drehtag ohne Natacha. Sie hat einen hohen Kunstanspruch.
Den Scheich nennt sie "bullshit", vielleicht nicht ganz
zu Unrecht, aber der Markt widerlegt sie. Für Valentinos Film
"The Young Rajah" entwirft sie Kostüme, die den Regisseur
erst in den Lach- dann in den Schreikrampf treiben; Rudy trägt
fromm den klimpernden Lendenschurz aus Perlen, den ihm seine Gattin
umlegt, und es ist nur seinem Charme und seinen schönen Beinen
zu verdanken, dass die Leute nicht aus den Kinos laufen. Natacha zieht
alle Register. Sie schleppt ihren Mann zu Séancen, bei denen
er sich zu Tode fürchtet nachher hat er einen Schutzgeist,
"Black Feather", ein toter Indianer, und dieser ist immer
Natachas Meinung. Vier Jahre dauert Valentinos zweite Ehe. Vielen
Leuten kommt das vor wie ein halbes Jahrhundert. Ist der Pascha mit
der Sklavenkette vielleicht ein Masochist? Die Fortsetzung des Films
"Der Scheich", "The Son of the Sheik", gilt bis
heute als Geheimtip für Leute mit solchen Neigungen. Halbnackt
und in Ketten wird Rudy hier ausgepeitscht ausgiebig, lautlos,
die Szene ist ziemlich lang. Schuld an der Misshandlung ist Diana;
später kriecht sie vor ihm im Staub und er zeigt ihr seine Striemen,
schwarze Risse auf weißer Haut, blutiges Zeluloid. Das Drehbuch
ist seltsam verwaschen. Rudys Wunden haben einen seltsamen Zauber.
Wer hat für diesen Film geseufzt, und warum, in den dunklen Kinosälen
der 20er Jahre? Möchte man erklären, was das Wort "Subtext"
bedeutet, sind Valentinos Filme nicht das schlechteste Beispiel.
Vexierspiele,
vertrackte Erotik, ein Traumbild zu jedermanns freier Verfügung:
Man wird den Verdacht nicht los, dass den Jungen aus Castellaneta
dieses unwirkliche Dasein ein wenig überfordert. Wo ist Rodolfo
geblieben, in all dem Geflacker, auf der Leinwand und in den gierigen
Herzen von Millionen fremder Leute? Die öffentlichen Ekstasen
im Fall Valentino sind legendär, ohne mehrere Bodyguards kann
er nach dem "Scheich" nicht mehr auf die Straße. Sie
seufzen nicht, seine Fans, sie schreien zumindest die Frauen;
ein paar fehlgeleitete Männer seufzen vielleicht heimlich, aber
daran möchte Rudy gar nicht denken. Wie steht es um die Mannesehre,
bei einem solchen Beruf? Hilft es, wenn man täglich Liegestütze
macht und Boxunterricht nimmt beim großen Jack Dempsey? So sieht
sich Valentino am liebsten: in der Turnhose, ungeschminkt, ein ganzer
Kerl; aber auch diese Lichtbilder gehören den Massen, und wer
sie aus der Zeitung schneidet und warum, darauf hat Rodolfo keinen
Einfluss.
Im
Sommer 1926 holen ihn seine Ängste schließlich ein. Die
Chicago Tribune publiziert einen Artikel, in dem der Niedergang der
Vereinigten Staaten zwei Perversionen angelastet wird: Der Installation
von Makeup-Spendern in Herrentoiletten und Rudolph Valentino. Von
"so genannten Männern" ist die Rede, von Weichlingen,
von rosa Puderquasten; Rudy trägt das nicht mit Fassung. Er schäumt,
schreit, zerfetzt die Zeitung. Er fordert den Schreiberling jener
Zeilen in einem offenen Brief zum Duell im Boxring. Die Presse frohlockt.
Valentino bekommt keine Antwort. Er boxt mit einem anderen Journalisten
und gewinnt, aber das ist alles nur inszeniert. Rudy ist nicht glücklich.
Er macht tapfer weiter. Partys, Filme, wieder ein Scheich, und Monsieur
Beaucaire, der androgyne Liebesgott, ein Rokoko-Traum, schön
und schwül und traurig wie ein Gemälde von Watteau. Rudy
ist zum zweiten Mal geschieden. Fast unmerklich lichten sich seine
Haare. Er fährt im Sportwagen, viel zu schnell, er wird verunglücken,
sagen die Leute, er bringt sich um, "live hard, die young",
der Spruch ist noch nicht erfunden. Rudy hat acht Pferde, zwölf
Hunde, Affen und Papageien, er hat ein Haus mit sechzehn Zimmern,
fünfzig Anzüge, Manschettenknöpfe, Krawattennadeln,
Uhren, alles mit Brillanten. Er hat eine neue Freundin, Pola Negri.
Das Leben ein Film? Der Film das Leben? Wie sollen sie das wissen,
Rudy, Pola, die Königskinder aus Zelluloid? Manchmal schreibt
Valentino Gedichte. Sie liegen unter den Kopfkissen der Fans. Hat
sie Walt Whitmans Geist diktiert, wie Natacha behauptete, oder sucht
der stumme Rudy nach Worten?
Zitator:
Glück? Du wartest
irgendwo, irgendwo ...
Wir wissen nicht wo,
wir wissen nicht wie
wir dich finden, und ob
doch wir wissen
du wartest, wartest ... irgendwo ...
Am 23. August 1926, vor fünfundsiebzig Jahren, ist Rudolph Valentino
gestorben. Er war einunddreißig Jahre alt. Eine Blinddarmentzündung,
Endokarditis ein früher, friedlicher Tod in einem New
Yorker Krankenhaus, zwei Jahre vor Erfindung des Tonfilms und Entdeckung
des Penicillins. Tränen, viele Tränen. Ein paar Mädchen
nehmen sich still das Leben. Pola Negri bricht schreiend zusammen,
dann spielt sie die Witwe ihre schönste Rolle, sagen die
Lästerer. Zigtausende beim Begräbnis, ein Blumenmeer, apokalyptischer
Regen. "Der Himmel weint", schreien die Fans und drücken
die Glasscheibe ein, hinter der er aufgebahrt liegt: Einbalsamiert,
im Frack, in einem Sarg aus Bronze, schön wie einst, stumm wie
einst, jung und tot und unsterblich. Berittene Gendarmerie hält
den Mob im Zaum. Schon gibt es die üblichen Gerüchte: Er
ist erschossen worden, erstochen, vergiftet, er lebt noch, im Sarg
liegt eine Puppe. Unbeirrt flattert Scheich Ahmeds Burnus im Wüstenwind.
Spiritistinnen in aller Welt unterhalten sich mit Rudys Geist, tiefsinnige,
romantische Gespräche. Wie haben sie seine Stimme erkannt, im
Gemurmel all der Toten? Der größte Filmstar der Welt ist
verblichen, ohne ein gesprochenes Wort zu hinterlassen. Allerdings
ein paar gesungene: Im Frühling 1923 ließ sich Valentino
überreden, in einen schwarzen Trichter in den Brunswick Studios
zu singen. "Oh weh", seufzte Rudy, als er diese Aufnahmen
hörte, "da geht sie hin, meine Opernkarriere!" - und
er blieb fortan bei seiner angestammten Profession: ein Fabelwesen
ohne Stimme, zu schön um wahr zu sein, ein Prinz aus Zelluloid.
