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   Berühmter als Queen Mum

Die Geschichte der englischen Gangster Ronnie und Reggie Kray


Südwestrundfunk, 2003

Funkmanuskript, © Christine Wunnicke 2003



Erzählerin:
London, im März 1995. Sechs Rappen ziehen eine schwarze Kutsche mit gläsernen Seiten. Darinnen ein prunkvoller Sarg, Gold und Mahagoni. Ein Blumenmeer. Ein Konvoi von zwanzig schwarzen Limousinen. Hubschrauber kreisen. Fast hunderttausend Schaulustige drängen sich an der Bethnall Green Road, viele folgen dem Zug meilenweit bis zum Friedhof von Chingford Mount. Ein alter Herr im Maßanzug steigt aus einem Auto. Er ist mit Handschellen an einen Vollzugsbeamten gefesselt. Die Menge jubelt, "Reggie, Reggie, Reggie!" Der alte Herr ist traurig. Er beerdigt seinen Zwillingsbruder Ronnie. Allerdings fehlt etwas. Ronnies Gehirn hat sich die forensische Psychiatrie unter den Nagel gerissen, zu Forschungszwecken.
Im Oktober 2000 wiederholt sich das Spektakel. Die schwarze Kutsche, der Konvoi – zigtausend Londoner erweisen nun Reggie die letzte Ehre. Die Fernsehsender unterbrechen ihr Programm, um live von der Beisetzung zu berichten. Reggie und Ronnie Kray liegen im selben Grab. Ein Stein aus schwarzem Marmor steht zu ihren Häuptern, darauf, in Blattgold, ein einziges Wort – "Legende".

Musik: Geoff Goddard, "For Eternity"

Die Zwillinge aus dem Eastend waren in London fast so berühmt und fast noch beliebter als die Queen Mum. Ihre Verdienste um das Land halten sich, bei genauer Betrachtung, in Grenzen. Ein eindrucksvolles Schutzgeld-Imperium, Körperverletzung, Nötigung, Erpressung, Betrug, zwei Morde, dann 30 Jahre im Knast. Ein Händchen für die Medien, schon damals, in den 60er Jahren, als die Kray-Firma florierte, und bis zum Totenbett. Noch heute verkaufen sich die Souvenirs: Kray-T-shirts, Kray-Bierkrüge, Kray-Taschenmesser und -Fliegerjacken und natürlich das Buch mit Ronnies Gedichten. In keinem Londoner Tattoo-Shop zuckt man mit der Wimper, wenn der Kunde eine Ronnie&Reggie-Tätowierung verlangt. Das Standardmodell ist sehr kleidsam: Zwei identische Männer, Glanzlichter im pomadisierten Haar, schwarze Anzüge, weiße Hemden, schwarze Schlipse, scharf gekniffte Tüchlein in den Brusttaschen. Todschick. Der doppelte Al Capone aus dem Eastend. Eine Geschichte über die Kunst, berühmt zu werden. Eine Geschichte über fragwürdige Idole. "Ach ja", seufzen die alten Mütterchen, wenn wieder jemand das Geld aus der Gasuhr geklaut hat, "das wäre nicht passiert, wenn wir die Krays noch hätten!" Die Mafia als edle Ersatzregierung. Die alte romantische Lüge.

Ronald und Reginald Kray werden am 24. Oktober 1933 in Hoxton geboren. Eine fiese Gegend. Arme Leute, Ghettostolz. Das Klo im Hinterhof, vernagelte Fenster, und in den düsteren Gassen spukt noch immer der Geist von Jack the Ripper. Vater Charlie ein Deserteur auf der Flucht. Charlie junior, der große Bruder, ist sechs Jahre älter als Ron und Reg; er wird den schrecklichen Zwillingen später treu zu Diensten sein. Mutter Violet vergöttert ihre Jüngsten. Ihr seid etwas ganz besonderes, sagt sie stolz. Die Zwillinge glauben ihr das aufs Wort. Noch auf dem Sterbebett schwärmt Reggie von seiner Mutter –

Reggie Kray O-Ton
Mummy was usually there - we respected her very stongly. I remember her a really very warm person, she really don´t want anyone down, she was giving, just giving all the time ...

Voiceover
Mami war meistens da. Wir hatten größte Hochachtung vor ihr. Sie war ein sehr warmer Mensch, nie hat sie jemanden runtergemacht, immer nur gegeben und gegeben ...

Erzählerin:

Die Zwillinge entwickeln sich zu kleinen Scheusälern. Sie zanken dauernd. Sie sind unzertrennlich und unschlagbar. Reggie ist ein joviales Kind, Ronnie der stille Brüter. In den Bombenruinen liefern sie sich Schlachten mit Nachbarjungs, mit den Fäusten, bald auch mit Messern und Fahrradketten. Zuhause versorgen Mama, Oma und zwei Tanten die Wunden. Mit elf Jahren schlagen sich Ron und Reg gegenseitig die Nasen blutig, vor Publikum, auf einem Jahrmarkt in Bethnall Green. Dafür gibt’s ein Taschengeld. "Das dürft ihr nie wieder tun", sagt Mutter. Die Zwillinge schwören Gehorsam. In Zukunft verprügeln sie nur andere.

Mit sechzehn Jahren sind Ronnie und Reggie Profiboxer. Reg wird in seiner Alters- und Gewichtsklasse beinahe englischer Meister. Mit siebzehn die erste Anzeige wegen Körperverletzung. Der Prozess wird eingestellt: die Zwillinge gleichen einander aufs Haar und einer hat immer ein Alibi. Mit achtzehn die Einberufung zum Militär. Ronnie und Reggie bei den Königlichen Füsilieren. Das gefällt ihnen nicht. Die Krays sind ihre eigene Armee. Sie verdreschen einen Ausbilder und suchen das Weite. Zwei Jahre lang abwechselnd im Militärgefängnis und auf der Flucht, immer wieder heim zu Mama. 1954 werden sie unehrenhaft aus der Armee entlassen. Sie pumpen ihren großen Bruder Charlie an und übernehmen einen Billardsalon in der Nachbarschaft: "The Regal".

Musik: Eddie Calvert, "Cherry Pink and Apple Blossom White"

Erzählerin:

Jeder, der im Eastend Dreck am Stecken hat, ist bei Ron und Reg willkommen – sofern er ihren Gesetzen gehorcht und von allen Einkünften Prozente bezahlt. Die Firma Kray ist geboren. Nach und nach übernehmen die Zwillinge die Schirmherrschaft für kleine und mittlere kriminelle Unternehmen. Einbrecher, Hehler, Fälscher, Waffenschieber, die Veranstalter von illegalen Glücksspielen und Wetten treffen sich im "Regal", geschützt vor Polizei und Konkurrenz. Der Kray´sche Schutz ist nicht gratis. Die Höhe der Umsatzbeteiligung legt die Firma fest. Wer sich nicht schützen lassen möchte, lernt bald, wie wichtig ein guter Schutzpatron ist: Ron und Reg führen das eigenhändig vor. Reggie bietet gerne eine Zigarette an, bevor er zuschlägt: ein Unterkiefer bricht nämlich besser, wenn der Mund offen ist. Bald schützen die Zwillinge das halbe Viertel – nicht nur Ganoven, auch Kneipen, Geschäfte, Autowerkstätten. Ronnie dämmert erst allmählich, woher er seinen neuen Beruf kennt: Legs Diamond! Al Capone! Ron ist im siebten Himmel. Er liebt Mafiafilme. Nun spielt er in seinem eigenen die halbe Hauptrolle.

Reg für die Organisation. Ron für die Atmosphäre. Er kümmert sich um Kostüm und Requisite: Im schwarzen Zweireiher, dicke Goldringe an den Fingern, befielt er seinen Gästen, mehr zu rauchen, damit das "Regal" so verqualmt aussieht wie die amerikanischen Gangsterclubs auf Zelluloid. Er läßt sich die Nägel maniküren, engagiert einen Leibmasseur. Er legt sich eine Waffensammlung zu, daheim bei Mama unter den Dielenbrettern. Revolver, Gewehre, Krummsäbel, chinesische Wurfmesser. Er legt sich auch einen neuen Namen zu: "The Colonel". Entsprechend wird Mutters Haus in der Vallance Road in "Fort Vallance" umgetauft. Ronnie Kray träumt sich als Feldherrn, als Filmstar, als Paten einer internationalen Cosa Nostra. Das logische Denken ist seine Sache nicht. Reggie betrachtet ihn bisweilen mit Besorgnis. Dennoch macht er ihm alles nach.

Die Firma rekrutiert Mitarbeiter. Sie schützt nun Unternehmen von Bethnall Green bis Stepney, von Stepney bis Hackney und Walthamstow, und dann schützt sie auch schon den ersten Club im Westend, und bald auch den zweiten. Ronnie schießt einen Mann an. Schießen gehört zum Drehbuch. Der Prozess endet mit Freispruch – dank Reggies Alibi. Ronnie frohlockt. In seiner Euphorie will er nun Al Capone ein wenig variieren: Ronnie feiert sein Coming-Out.

Musik: Jenny Moss, "Hobbies"

Dank Ronnie Kray wird das Eastend eine Oase der Schwulenbefreiung in einer finsteren Zeit. Er räumt gründlich auf mit Vorurteilen: sollte jemand einen homosexuellen Mafioso komisch finden, so behält er das besser für sich. Ron umgibt sich mit Jünglingen in bunten Hemden, rotwangig und mit schönen Zähnen, darauf legt er Wert. Irgendwann verknallt er sich unsterblich in einen glutäugigen Marokkaner. Liebesbriefe und Tränen. Doch schließlich geht das Geschäft vor. Ronnie, Reggie und ein Dutzend ihrer Vasallen schlagen einen Mann halbtot, von dem sie vermuten, er habe einen Mitarbeiter der Firma behelligt. Diesmal hat keiner der Zwillinge ein Alibi. Ronnie kommt für drei Jahre in den Knast.

Reggie blüht auf. Jetzt ist er der Boss. Unterstützt von Bruder Charlie eröffnet er ein zweites Hauptquartier für die Firma, die er neu organisiert, nach den Regeln der Vernunft, ohne Krummsäbel, hübsche Knaben und Geschrei. "The Double R", heißt das Lokal, das doppelte R; denn eines Tages wird Ron ja wiederkommen.

Reggie Kray O-Ton
The Double R Club I was kinda married to ´cause I was there day and night. Everything run according to plan. Everybody who wanted gin and tonic I brought him gin and tonic and all was very happy. I did stay here at leisure most of the time and just enjoyed myself.

Voiceover
Mit dem Double R Club war ich wie verheiratet. Ich war dort Tag und Nacht. Alles lief nach Plan. Wenn jemand Gin and Tonic wollte, hab ich ihm Gin and Tonic gegeben, und alle waren zufrieden. Meistens war es wie Freizeit und ich hab´s mir gutgehen lassen ...

Erzählerin:
Ronnie fühlt sich wohl im Gefängnis. Man hofiert ihn. Er knüpft interessante Kontakte. Dann verlegt man ihn auf die Isle of Wight. Plötzlich fühlt er sich nicht mehr wohl. Er hat Angst. Überall wittert er unsichtbare Feinde. Es wispert und tuschelt aus den Wänden. Die Welt ist eine Verschwörung, ein Film, inszeniert von einem böswilligen Regisseur, besetzt mit Schauspielern, die reale Personen spielen, um Ronnie in die Irre zu führen. Er tobt. Zwangsjacke. Man diagnostiziert einen Knastkoller. Dann diagnostiziert man paranoide Schizophrenie. Man bringt ihn zurück nach London und in die psychiatrische Anstalt. Reggie macht einen Krankenbesuch. Er tauscht mit Ronnie den Mantel. Ronnie sucht das Weite. Als die Polizei kommt, findet sie einen grinsenden Reggie. "Soll ich meines Bruders Hüter sein?" Immer noch sind die Zwillinge unschlagbar. Ronnie, daheim bei Mutter, hört Stimmen, faselt von der Weltherrschaft, hantiert mit seinen Revolvern, spült die Psychopharmaka mit Gin hinunter, dann versucht er, sich das Leben zu nehmen. Reggie ruft bei Scotland Yard an: "Bitte holen Sie meinen Bruder ab! Er ist verrückt!" Ronnie Kray sitzt den Rest seiner Strafe ab. Als er entlassen wird, ist er sehr verändert. Tiefliegende Augen. Ein schlimmer Zug um den Mund. Nun kann man die Zwillinge besser auseinanderhalten. Ende 1959, er machte nur seinen üblichen Job, kommt Reggie Kray vor Gericht: Versuchte Schutzgelderpressung. Zwei Jahre Gefängnis. Nun ist Colonel Ron der Boss der Firma.

Musik: The Impac, "Rataratat boom boom"


In Fort Vallance stapeln sich die Waffen. Ronnie träumt. Tagelang hört er Schallplatten mit Churchills Kriegsreden. Große Pläne, diese und jene, und immer etwas neues. Eine internationale Agentur für Auftragskiller gründen. Schätze suchen im Kongo und alle über den Haufen schießen, die im Weg stehen. Oder doch ein guter Mensch werden, vielleicht Krankenpfleger in einer Leprastation? Eine Hellseherin stellt fest, dass Ronnie die Reinkarnation von Attila dem Hunnenkönig ist. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen. Es ist ein wenig schwer nachzuvollziehen; doch unter Ronnies Leitung erblüht die Firma zu dem wohl lukrativsten kriminellen Großkonzern in der Geschichte von England.

Den Anfang macht "Esmeralda´s Barn", ein mehrstöckiges Etablissement – Spielsalon, Tanzschuppen, Bar mit allen Lizenzen – in der besten Gegend von London. Esmeralda ist eine Goldmine. Hinzu kommen die Schutzgelder. Vorbei ist die Zeit, da man Prozente verlangte von kleinen Dieben aus dem Eastend – auf der Liste stehen nun fast sämtliche vornehmen Clubs der Stadt. Ronnies Armee sorgt für Ruhe und Ordnung. Tochterfirmen werden gegründet, verschiedene Branchen: Showbusiness, Pferdewetten, Wirtschaftsbetrug, Pornographie, Investitionen in die Entwicklungshilfe. Alles floriert. Ronnie zieht in ein Luxusappartment in Chelsea. Dort fürchtet er sich zu Tode. Bald ist er wieder daheim in der Vallance Road. Mama bügelt seine Hemden und kocht Tee für viele Teenager mit schönen Zähnen. Wöchentlich schwärmen die Angestellten aus, um zu kassieren – die sogenannte "Melkrunde". Ein großes Netzwerk von Informanten schützt die Firma. Die Polizei sieht tatenlos zu. Das Finanzamt wundert sich. Als Reggie aus dem Gefängnis kommt, liegt das Jahreseinkommen der Zwillinge bei mehreren hundertausend Pfund.

Die Krays sind in Mode. Die Londoner High Society – und was sich dafür hält – findet es schick, mit Gangstern befreundet zu sein. Man schmückt sich mit Ronnie und Reggie: Sie sind kriminell, sie tragen die besten Anzüge von London, sie sprechen einen niedlichen Cockneyakzent, einer von ihnen ist schwul und verrückt, sie gehören eigentlich verboten. Viele Parties, Shakehands mit dem Jetset, ein Abendessen im House of Lords. Immer ist der Fotoapparat dabei. Das Album der Swinging Sixties ist voll von den Krays, wie sie stolz in die Kamera blinzeln, diese oder jene Berühmtheit neben sich – Gestalten in Schwarzweiß, wie herübergeweht aus einer vergangenen Epoche, Gangster aus einem alten Comicstrip. Ron und Reg sind reich und berühmt. Reg heiratet Frances Shea, eine irische Unschuld. Die Ehe dauert acht Wochen. Keine Frau darf zwischen den Zwillingen stehen – und zudem, so Ron, ist Reg in Wirklichkeit genauso schwul wie er selbst. Reg ist ein Feigling, sagt Ron. Soviel Mumm wie ein Fliegenbein. Frances zieht zurück zu den Eltern. Bald ist sie beim selben Psychiater in Behandlung wie ihr Schwager. Der Erfolg hält sich bei beiden in Grenzen. Zwei Jahre später nimmt sich Frances das Leben.

Die Zeitungen berichten über die Krays, als seien sie Filmstars. Reggie säuft. Ronnie fürchtet sich im Dunklen. Er schießt auf unsichtbare Feinde. In der Firma nimmt ein Mitarbeiter den Mund zu voll. Ronnie schiebt ihm einen Krummsäbel zwischen die Zähne. Nachher reicht der Mund von Ohr zu Ohr. Ronnie besucht den Gezüchtigten dann mit einem großen Blumenstrauß im Krankenhaus. Ein Foto von Judy Garland. Sie steht zwischen den Zwillingen und strahlt. Wenn Reggie artig bitte sagt, singt sie "somewhere over the rainbow", mitten auf der Straße sogar oder in der Limousine. Die Krays kümmern sich gerne um ausländische Künstler. Die Kontakte zu Amerika werden immer herzlicher. Bald tauscht man Geschenke mit den Paten von New York und hilft sich gegenseitig bei der Geldwäsche. Die Namen sind Musik in Ronnies Ohr: Familie Lucchese, Familie Genovese, Familie Colombo, Angelo Bruno, Tony "Ducks" Corallo ... Ronnie setzt seine Psychopharmaka ab. Das Leben ist wirklich ein Film.

Musik: Alan Dean, "Rock´n Roll Tarantella"

Eine Szene fehlt noch. Die Feuertaufe, längst schon überfällig. Ronnie Kray muss nun bald jemanden ermorden. Die Gelegenheit bietet sich im Frühjahr 1966. Wieder einmal gab es Streit mit den Gebrüdern Richardson, zwei Ganoven mit Gefolge, die in Southwark ihre eigene Firma betreiben. Sie sind keine große Konkurrenz für die Krays; dennoch gehen sie den Zwillingen längst schon auf die Nerven. Bei einer Kneipenschlacht zwischen Leuten der Richardsons und Leuten der Krays wird ein Mann erschossen. Er ist ein Cousin der Zwillinge. Wer ihn erschoss, weiß niemand. Ein anderer Mann namens George Cornell, ein freiberuflicher Schläger, einst für die Krays tätig und nun für die Richardsons, war vielleicht dabei. Vielleicht hat er geschossen. Vielleicht war Cornell auch derjenige, der Ronnie einst eine "dicke fette Schwuchtel" schimpfte – hinter seinem Rücken, versteht sich. Ronnie verzichtet darauf, den Fall zu untersuchen. Er geht in den "Blind Beggar Pub". Die Jukebox spielt die Walker Brothers: "The sun ain´t gonna shine anymore". Ronnie schießt George Cornell dreimal in den Kopf. Nachher wirft er seine Pistole in die Themse, fährt nach Hause und hört Churchill-Platten. Er ist glücklich. Unbesiegbar. Halb London weiß, wer Cornell erschossen hat. Der Mord wird dennoch nicht aufgeklärt. Die Zeugen schweigen. Ron und Reg machen Urlaub in Marocco. "Jetzt bist DU dran, feiger kleiner Bruder", sagt Ron. Dabei ist Reggie genau zehn Minuten älter!

Zwei Jahre lang liegt Ronnie seinem Bruder mit diesem Herzenswunsch in den Ohren – du musst auch einen umbringen! Zigmal hat Reg Leute krankenhausreif geschlagen, zig Nasen und Kiefer gebrochen, auch mit Spring- und Rasiermesser hat er viel geleistet – doch das genügt nicht. 1967 ist es dann soweit. Die Firma beauftragt einen Menschen namens Jack McVitie, der sogar in der Badewanne den Hut aufbehält und deshalb "The Hat" genannt wird, einen Mitarbeiter aus der Welt zu schaffen, von dem Ron vermutet, dass er ein Polizeispitzel ist. Jack the Hat schlägt ein, kassiert den Vorschuss, aber der Spitzel bleibt am Leben. Jack gibt das Geld nicht zurück. Er randaliert besoffen in einem Pub. Er fuchtelt mit einer abgesägten Schrotfinte. "Der ist für dich", sagt Ron zu Reg. Reg gehorcht. Er spürt McVitie auf. Er hebt seine Pistole und drückt ab. Nichts passiert. Ladehemmung. Klick, klick, klick ... Jack the Hat versucht zu fliehen und verliert seinen Hut. Reggie schreit Zeter und Mordio. Ronnie packt Jack und hält ihn fest. "Los, Bruder!" Reggie nimmt ein Fleischermesser. Er sticht in McVities Gesicht, in die Brust, in den Bauch, immer wieder. McVitie geht zu Boden. Reggie stößt das Messer so tief in seinen Hals, dass er ihn auf die Dielenbretter nagelt.

Reggie Kray O-Ton
I didn't like the fellow McVitie. He did everything wrong. He´s very uncouth, he´s loud and aggressive, a vexation to the spirit and all. I thought I was being pushed into it too quick, ´cause to me it`s common sense to wait a little bit longer... I don't say you could prolong a thing like that forever but, see, it was getting a bit close, it's still debatable, but ... even so I had a lot of frustration in me and anger, probably more anger that night than any other

night in my life ...

Voiceover
Ich hab diesen McVitie nicht gemocht. Er hat alles falsch gemacht, ein grober Kerl, laut und aggressiv, eine Nervensäge. Wahrscheinlich bin ich da zu sehr gedrängelt worden, der gesunde Menschenverstand hat mit geraten, lieber noch ein bisschen zu warten ... wobei man sowas ja auch nicht ewig aufschieben kann ... aber es war wohl doch ein bisschen plötzlich und fragwürdig . Ich war jedenfalls frustriert und wütend in dieser Nacht, wahrscheinlich die wütendste Nacht meines Lebens ...

Erzählerin:

Im Herbst 1967, als Reggie Kray Jack McVitie ermordet, gelingt auch einem kleinen elastischen Polizeikommissar namens Leonard Read ein wesentlicher Schritt auf der Karriereleiter: Er wird zum Oberinspektor befördert und bekommt ein Büro in Scotland Yard. Detective Read trägt den Spitznamen "Nipper" – soviel wie "Schnapper". Seit Jahren ist er den Krays auf der Spur. Die Zwillinge sind seine Leidenschaft, eine Hassliebe auf Gegenseitigkeit. Die Krays wissen, was Nipper will. Nipper weiß, dass die Krays das wissen. Er führt Buch über alle Spuren, alle Indizien, alle Untaten der Firma. Die geheimen Protokolle tauft er seinen "entzückenden Index". Nun ist er Oberinspektor und beide Krays Mörder: Nipper Read macht sich mit neuem Elan und wenig Unterstützung von Scotland Yard an die Arbeit.

Musik: The Tremeloes, "silence is golden"

Wochen und Monate sucht Detective Read nach Zeugen. Es gibt viele. Keiner spricht mit ihm. "Ein Eastender petzt nicht", sagt einer. "Ich kann kein Blut sehen", entschuldigt sich ein anderer, "am wenigsten mein eigenes." Schweigen ist Gold.


Anfang 1968 kauft sich Ronnie bei Harrods eine Python und tauft sie "Nipper". Eine Woche später hat Leonard Read seinen Kronzeugen: Leslie Payne, ein Angestellter der Firma. Payne ist derjenige, den Jack McVitie ermorden sollte und nicht ermordet hat – der vermutete Polizeispitzel. Damals war Payne noch kein Spitzel. Jetzt packt er aus. Er weiß sehr viel. Nipper Read überprüft die Aussagen. Payne sagt die Wahrheit. Ronnie macht Urlaub, füttert seine Python mit lebendigen Mäusen, dann plant er den Mord an einem unartigen Clubbesitzer aus dem Westend – mittels eines Autos voller Dynamit. Am 9. Mai 1968 schlägt Nipper zu. Ronnie und Reggie Kray, dazu Bruder Charlie und 22 Mitarbeiter der Firma werden in der Morgendämmerung festgenommen. Die Polizei holt die Zwillinge aus den Betten – daheim bei Mutter in Fort Vallance, Reg hat ein blondes Mädchen im Arm und Ron einen blonden Jungen. Niemand leistet Widerstand. Ronnie und Reggie werden abgeführt und kommen nie wieder zurück.

Reggie Kray O-Ton
It is very difficult to apologise in some cases but not in others. But I suppose if I've been a bit
too violent over the years I make some apologies about it, but there is little I can do about it
now, so again it's no good reflecting back. It's pointless.


Voiceover
Es ist schwierig, sich in manchen Fällen zu entschuldigen und in anderen nicht - aber es kann schon sein, dass ich über die Jahre manchmal ein bisschen zu gewalttätig war. Da entschuldige ich mich schon irgendwie dafür. Aber das ändert heute nichts mehr. Es ist nutzlos.

Erzählerin:
Im Januar 1969 werden Ronnie und Reggie Kray schuldig gesprochen, Ron für den Mord an Cornell und Reg für den Mord an McVitie. Das Urteil – Lebenslänglich. Charlie und fünf Mitglieder der Firma werden ebenfalls verurteilt, wegen Beihilfe zum Mord an McVitie. Kein anderes Delikt, weder Erpressung noch Betrug, weder Körperverletzung noch Steuerhinterziehung, ist der Firma nachzuweisen.

Drei Jahrzehnte lang sitzen Ronnie und Reggie im Knast, zuerst getrennt, dann, ab 1972, gemeinsam im Hochsicherheitstrakt des Parkhurst Prison. Reggie übt mit seinen Hanteln, Ronnie malt und schreibt Gedichte. Er malt immer dasselbe Bild – ein Cottage und einen Baum. Seine Gedichte sind traurig und reimen sich sehr. Bald trennt das Schicksal die Brüder wieder, Ronnie wird in die psychiatrische Anstalt von Broadmoor verlegt. Dort wohnt er, malend, dichtend, ketterauchend, stets im Maßanzug, bald mehr, bald weniger schizophren, bis zu seinem Tod. Reggie wandert von Gefängnis zu Gefängnis. Im September 2000, im 32. Jahr seiner Haft, wird er begnadigt. Zwei Wochen nach seiner Entlassung stirbt er an Krebs. Wie es sich gehört für Berühmtheiten, haben beide im Gefängnis geheiratet – Reggie einmal, der schwule Ron gleich zweimal hintereinander: auch hinter Gittern wußte er seinen Bruder noch zu übertrumpfen.

London hielt den Krays 30 Jahre lang die Treue. Ihre Haft galt bei vielen als der Inbegriff staatlicher Gemeinheit. Die Morde waren schnell vergessen – weder Cornell noch McVitie eignen sich sonderlich als Sympathieträger – und bald waren die Krays Ikonen, charmante Gangster, liebenswerte Unholde, Opfer der Justiz, Eastend-Folklore, fast so eine Art doppelter Robin Hood.

"Also dieser Blödmann wird Sir", maulte ein einsamer Mann in einem Pub in Bethnall Green, als die Königin Mick Jagger zum Ritter schlug, "und die Krays haben sie nicht einmal freilassen können!"

Musik, Cherry Pink


© 2004 by Christine Wunnicke