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Die Kunst der Bestimmung

Kindler, 2003

rororo , 2005

Maennerschwarm, 2016


London, im Jahr 1678. Die berühmte Royal Society, Gesellschaft zur Beförderung der experimentellen Gelehrsamkeit, bestellt den schwedischen Professor Dr. Simon Chrysander zum Kurator ihrer naturkundlichen Sammlungen. Dr. Chrysander ist ein Meister darin, die Dinge der Schöpfung zu bestimmen; seit dem Pfarrerssohn eines Tages der liebe Gott abhanden kam, ordnet er die Welt, stets auf der Flucht vor dem Chaos, nach den Gesetzen der Mathematik. Mit eisernem Besen kehrt er aus in der verlotterten Wunderkammer der Royal Society und macht sich damit nicht nur Freunde.

Für Lord Fearnall, einen exzentrischen jungen Mann im Gefolge des Königs, ist die Welt eine Bühne. In immer neuen Rollen und Verkleidungen schlingert er durch die grandiose Wirrnis des barocken London, getrieben von der unklaren Sehnsucht nach einem Gegenüber, das ihn bändigt und erkennt. Als Lord Fearnall Dr. Chrysander begegnet, prallen zwei Welten aufeinander. Ein Spiel von Anziehung und Abstoßung, von Verführung und Gegenwehr beginnt

Rezension Junge Welt




"Hier etwa, und dies war noch die geringste meiner Missbildungen ..." Lucius hatte die Spitzenmanschetten gelöst, schob den linken Ärmel hoch und hielt Chrysander seinen vernarbten Puls hin,
"... hier wuchsen einst eine zweite Hand sowie ein einzelner verkümmerter Finger. Und hier ..." Lucius deutete auf die Narben weiter oben in der Armbeuge, "hier befanden sich weitere Finger, bräunlich, verschrumpft, mit hornigen Nägeln wie die Krallen meines Papageien. Ich konnte als Knabe einen Stift damit halten. Und hier, Herr Professor ..."
Chrysander griff nach Lucius’ Arm. Dann blickte er ihm ins Gesicht.

"Hier links", fuhr Lucius rasch fort, "da wuchs ein verkümmerter Daumen ..." Chrysander ließ ihn nicht ausreden. "Ihre verdammten Lügen ...", begann er laut, dann hielt er inne. Er drehte Lucius Unterarm im Licht. Er fuhr mit zwei Fingern vorsichtig über die Narben.
"Wer ließ Sie so schlecht zu Ader?", fragte Chrysander, "oder schneiden Sie gar selbst?"
"Meine elende Disposition erfordert leider täglichen Aderschlag und die Schnitte verheilen schlecht über den alten Narben." Lucius ließ sich nicht beirren. Er zog seinen Arm zurück und öffnete dann die Bänder, die seine Krawatte hielten.
"Dies war erst der Anfang." Er knöpfte sein Hemd auf. "Voilà ..." Lucius wies auf eine Narbe unter dem linken Schlüsselbein. "Hier war ein kleiner Kopf, der jenem eines embryonalen Affen glich. Er bildete Auswüchse tief nach innen in den Brustraum, und eine rudimentäre Wirbelsäule bedrängte mein Herz."

Lucius zog das Hemd aus der Hose und über den Kopf und ließ es fallen.
"Der Chirurg musste tief schneiden, um diesen Gast zu amputieren. Und hier ..." Lucius zeigte Chrysander eine Narbe im Rippenwinkel, "hier wurde meine zweite Milz entfernt. Sie war weich und pulsierte, nur ein dünnes Häutchen bedeckte sie. Ich verlor viel Blut bei der Operation, und auch hier, wo eine dritte Niere ins Freie stand ..." – Lucius tippte auf eine weitere lange Narbe, die den Nabel umrundete und im Hosenbund verschwand – "... auch bei diesem Eingriff war ich dem Tode nah. Doch Unkraut, wie man sagt, geht nicht unter. Und dort, am Oberarm, Gott sei’s geklagt, wuchs wiederum ein Köpfchen ..."
"Ziehen Sie ihr Hemd an", sagte Chrysander, "und schweigen Sie still."

© 2004-2016 by Christine Wunnicke