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Auszug aus:
Christine Wunnicke "Die Nachtigall des Zaren. Das Leben des Kastraten Filippo Balatri":

Einleitung: Balatris Memoiren




Die Geschichte von Filippo Balatri hat drei Anfänge. Der erste ist einfach: Am 6. April 1682 bekommen die Eheleute Balatri in Pisa einen Sohn. Der zweite Anfang ist weniger genau zu datieren und nicht ganz so alltäglich, obwohl auch dies durchaus den Sitten der Zeit entspricht: Der Ministrant Filippo, ungefähr elf Jahre alt und bekannt für seinen hübschen Sopran, wird in die Praxis eines Luccheser Wundarztes gebracht, der seine Hoden amputiert. Damit sind die Weichen für sein Leben gestellt. Filippo weiß jetzt, er muss ein guter Sänger werden; es gibt für einen Eunuchen keinen anderen ehrbaren Broterwerb. Der dritte Anfang spielt in München. Dort greift Filippo Balatri 1725 zur Feder und macht sich an die Arbeit. Er hat eine schöne Schrift, gut zu lesen, unverkennbar der kühle Schwung des geübten Notenkopisten. Jahrzehntelang hat er Tagebuch geführt, nun schreibt er seine Erlebnisse ins Reine. "Spuckt mir ins Gesicht", schreibt er, "wenn ich nicht die Wahrheit sage!" Filippo geht ins Detail. Seine Lebensgeschichte füllt insgesamt fast fünftausend handschriftliche Seiten.

Filippo Balatri zählt nicht zu den prominentesten der vielen kastrierten Sänger, die im 17. und 18. Jahrhundert Karriere machten. In den Annalen der Oper ist er eher eine Fußnote. Dabei ist seine Laufbahn eine der spektakulärsten, die einem Sopranisten je beschieden war - auf den Weidegründen der Kalmücken an der unteren Wolga hat der große Farinello nicht gesungen. Hätte Balatri seine Geschichte nicht niedergeschrieben, wäre sein Leben heute nur sehr lückenhaft zu rekonstruieren. Dank seiner Memoiren weiß man jedoch mehr über ihn als über jeden seiner berühmteren Kollegen.

Als Filippo Balatri 1715 eine feste Anstellung in der Münchener Hofkapelle bekommt, hat er schon viel von der Welt gesehen: Italien und Frankreich, England und Deutschland, Russland und die wilde Tatarei. So nennt er auch eines seiner Werke: "Frutti del Mondo, esperimentati da F.B., nativo dell´Alfea in Toscana" ("Früchte der Welt, gekostet von F.B., gebürtig aus Alfea (Pisa) in der Toskana"). Das Manuskript ist im August 1735 fertig gestellt worden und liegt heute in der Bayerischen Staatsbibliothek. Es ist eine Autobiographie in Versform, endgereimte Vierzeiler, gut zweitausend Strophen; ein literarisches Genre, welches das 18. Jahrhundert in dieser Form sonst nicht kennt.

Der Adressat der Geschichte ist die Welt persönlich: "Signor Mondo", Filippos falscher Freund und heiß geliebter Feind, der Verursacher aller Schikanen und aller trügerischen Triumphe, die dem Sänger in seinem Leben zuteil geworden sind. Es ist die abgegriffene barocke Allegorie - nicht ohne Grund steht das "Vanitas Vanitatis" gleich unter dem Titel - aber es ist doch zugleich ein sehr persönlicher Vorwurf. Wer sonst sollte das gewesen sein, der den jungen Italiener ungefragt entmannte, ihn ein paar gefällige Koloraturen lehrte und dann jahrzehntelang über den Erdball scheuchte, ohne Sinn und Verstand? Der liebe Gott etwa? Niemals! Filippo schimpft seitenlang: Mondo Porco! Mondo Perverso! Mondo Canaglia! Manchmal schimpft er aus vollstem Herzen. Dann wieder klingt es fast wie eine Pflichtübung. Ein paar Jahre später wird er sich entschließen, Zisterziensermönch zu werden, da gehört die Weltverachtung zum Programm. Manchmal, oft, ahnt man aber auch ein Lächeln. Hasst er ihn wirklich so, den albernen Herrn Welt? Kennt er ihn vielleicht schon viel zu gut, um sich noch ernsthaft über ihn aufzuregen? An Balatris Frömmigkeit besteht kein Zweifel, aber manchmal weiß man trotzdem nicht so recht, woran man eigentlich bei ihm ist.

Das Manuskript "Frutti del Mondo" sieht aus, als sei es erst gestern geschrieben worden. Die beiden großen kalbsledernen Bände sind in makellosem Zustand, gute Tinte, teures Papier, und hier und da, wenn man genau hinsieht, die feinen Abdrücke, die der Streusand des Autors hinterlassen hat. Mit Balatris Opus Magnum, "Vita e Viaggi di F.B." ("Leben und Reisen von F.B."), das zwischen 1725 und 32 entstanden ist, sind die Jahrhunderte weniger gnädig umgegangen. Neun Bände, gut 3300 Seiten, sind von der Prosafassung seiner Memoiren erhalten geblieben. Sie sind reichlich malträtiert - abgeschabt, wurmstichig und stellenweise fleckig bis zur Unleserlichkeit -, und auch unvollständig. Dank "Frutti del Mondo" ist deutlich auszumachen, dass nach einem Bruch im Handlungsablauf ungefähr zehn Jahre der Lebensgeschichte fehlen, wahrscheinlich ein, vielleicht auch zwei Bände des Manuskripts. Wo und wann diese abhanden kamen, ist heute nicht mehr festzustellen.

Während "Frutti del Mondo" Bayern anscheinend nie verlassen hat, ist "Vita e Viaggi" weit gereist. Von München gelangten die Bücher nach England in die Bibliothek der Familie North Guilford. Von dort verschiffte man sie nach Italien, in den Laden des Florentiner Buchantiquariats De Marinis & Co. Anfang des 20. Jahrhunderts fanden sie den Weg nach Prag. Hier bekamen die neun Bände - also bereits das lückenhafte Werk - einen Ehrenplatz in der Privatsammlung eines russischen Hydrologen namens Otozkij. Er verzierte Balatris Zeilen hier und da mit dezenten Randglossen in kyrillischer Schrift und riss die Titelblätter der letzten drei Bände aus, um zu vertuschen, dass das Manuskript nicht vollständig war. Von Prag ging die Reise schließlich nach Russland: 1962 schenkte die Staatsbibliothek der CSSR das auf dem freien Buchmarkt erworbene Manuskript "Vita e Viaggi" der Moskauer Lenin-Bibliothek zu ihrem 100. Geburtstag. Dort liegen die Bände noch heute.

Ebenso wie "Frutti del Mondo" ist "Vita e Viaggi" nicht immer leichte Lektüre. Balatri schert sich wenig um die Regeln der Schriftstellerei, nicht als Dichter und nicht als Prosaist. Er verliert sich in Einzelheiten. Er verliert sich in vermischten Betrachtungen. Er verliert den Faden, schlägt Haken, landet an der falschen Stelle und erzählt dort seelenruhig weiter. "Frutti del Mondo" ist wahrscheinlich eine Reinschrift, "Vita e Viaggi" wirkt wie ein Entwurf - der Autor hat im Manuskript verbessert, allerdings nur Kleinigkeiten.

Filippo Balatri versteht sich nicht als Literat. "Ich kann kaum lesen, schreiben kann ich erst recht nicht, und dichten kann ich am allerwenigsten." Aber schließlich gehe es nicht um den Wohlklang, sondern um die Wahrheit, und die Wahrheit müsse man plärren, nicht singen. Er scheint es ein bisschen leid zu sein, das ewig harmonische Do Re Mi, mit dem er so lange sein Brot verdiente; wenn der Sänger schreibt, kümmert er sich wenig um Konventionen. Das Ergebnis sind zwei denkbar krude Meisterwerke, die zu den eigenartigsten und persönlichsten Autobiographien des 18. Jahrhunderts zählen - übersehen von der Literaturgeschichte und bis heute nicht vollständig publiziert.

Den ersten Seiten von "Vita e Viaggi" ist zu entnehmen, dass Balatri seine Lebensgeschichte auf die Bitten eines "hoch geschätzten Freundes" hin geschrieben hat und in keinen anderen Händen wissen möchte. Die Identität dieses Freundes bleibt ein Geheimnis. Balatri geizt nicht nur mit Zeitangaben - eine Datierung seiner Lebensgeschichte ist ohne zusätzliche Quellen nicht möglich - sondern auch mit Namen. Auch seinen eigenen versteckt er meistens hinter den Initialen. Ob er es sich in langen Jahren bei Hofe angewöhnt hat, persönliche Geschichten vorsichtshalber anonym zu erzählen? Da das Manuskript, wie aus den eingeklebten Exlibiris zu ersehen ist, in den Besitz der englischen Barone North Guilford gelangte, ist man natürlich versucht, hier den namenlosen Auftraggeber zu vermuten, zumal Balatri mehr als zwei Jahre in London lebte. Die Vermutung, dass es sich bei dem "hoch geschätzten Freund" um den musikliebenden englischen Literaten Roger North (1651-1734) handeln könnte, ist zwar reizvoll, aber nicht zu beweisen. Auch der plötzliche Wechsel der Anrede bleibt rätselhaft. Im fünften und sechsten Band ist der "hoch geschätzte Freund" plötzlich ein "ehrwürdiger Vater", ab Band sieben findet sich kein Hinweis mehr auf ein geistliches Amt des Adressaten. Schreibt Filippo für seinen Münchener Beichtvater? Schreibt er für den Abt des Klosters Fürstenfeld, wo er 1739 die Kutte nahm? Oder ist der anonyme Freund nichts anderes als der Wunsch nach einem Leser und Vertrauten, eine Allegorie wie der "Signor Welt"? Wir werden es nicht erfahren.

An eine Veröffentlichung seiner Manuskripte scheint Balatri nie gedacht zu haben. In seinem Testament gibt er genaue Anweisungen, was nach seinem Tod mit seinen gesammelten Aufzeichnungen zu geschehen hat. "Frutti del Mondo" solle gut aufbewahrt und wenn möglich auch ein bisschen herumgereicht werden. Es könne ja sein, dass das Buch einen Liebhaber finde, Schaden anrichten werde es wohl kaum. Auch ein zweites Manuskript, das den Titel "Fibel für einen jungen Kastraten" trägt, empfiehlt der Autor der Nachwelt zur gefälligen Beachtung. Von einem Werk dieses Titels fehlt bis heute jede Spur. Über "Vita e Viaggi" urteilt Balatri knapp und barsch: Man möge das schlecht geschriebene Zeug verbrennen, denn sonst würde das viele Papier sicherlich als Lockenwickler in jemandes Necessaire enden.

Balatris sogenanntes Testament, in dem diese Bestimmungen enthalten sind, ein etwas mitgenommenes Bändchen von gut 200 Seiten, liegt wie "Frutti del Mondo" in der Bayerischen Staatsbibliothek. Balatri hat es 1737-38 geschrieben, ein Jahr bevor er sein Noviziat antrat und achtzehn Jahre von seinem Tod. Wie immer bei Balatri ist die Stimmung schillernd. Abrupt, oft innerhalb eines einzigen Satzes, springt er vom Ernst zum Scherz, von tiefer Andacht zu purer Blödelei, "bald Truffaldino, bald der heilige Augustinus, wie ich nun einmal bin." Schnell ist auch der Sprung von den Gemeinplätzen des Katechismus zu sehr persönlichen, anrührenden Gedanken. Allzu viel Rührung gestattet Balatri allerdings nie, weder sich selbst noch seinem Leser. Auch im Testament kommen seine Geheimwaffen gegen die Sentimentalität oft zum Einsatz: Selbstironie und viele verrückte Geschichten. Er erzählt von ekelhaften Begräbnissitten und brutalen Leichenwäscherinnen, von den Abscheulichkeiten des Ehelebens, die ihm selbst erspart geblieben sind, von der Unfähigkeit der bayerischen Bürokratie, einen italienischen Namen zu buchstabieren, und von der hohen Kunst, frittierte Frösche zu essen, ohne sich dabei zu übergeben. "Wer verrückt geboren wird", schreibt Balatri, "der wird nie geheilt. So sagt das Sprichwort. Und mir gefällt es nun einmal, gute Laune zu haben, und dabei werde ich bleiben, bis ich alle Viere von mir strecke."

Gegen Ende des Testaments, eine Zukunft im Kloster vor Augen, schwört Filippo Balatri der Schriftstellerei ab. Jemand anderes möge den geplanten Roman für ihn schreiben, dessen Titel lauten soll: "Leben, Tod und Mysterien des zu steinigenden Heuchlers und Erzesels aller Esel, des allerwertesten Leib-Eunuchen von Prinz Ahmet dem Ersten". Filippo will die Feder niederlegen und fortan nur noch beten. Kaum ist er Novize, wird er diesem Vorsatz aber schon untreu. Er schreibt ein geistliches Schauspiel über die heilige Margarete von Cortona, aufzuführen auf der hauseigenen Bühne des ehrwürdigen Zisterzienserklosters zu Fürstenfeld. Dieses Manuskript wird heute in der Bibliothek der Accademia Etrusca in Cortona aufbewahrt. Und Balatri wäre nicht Balatri, wenn nicht sogar die höchst erbauliche Geschichte der Büßerin Margarete in seinen Händen erstaunlich komödiantische Züge bekäme - einschließlich eines toskanischen Teufels, der auf Bayerisch fluchen kann.

Seltsamerweise ist "Santa Margherita" Balatris einziges vollständig publiziertes Manuskript. Es wurde erst 1974 als Werk des Autors von "Frutti del Mondo" identifiziert und 1982 herausgegeben. Die beiden Manuskripte in München, "Frutti del Mondo" und das Testament, hat der deutsche Romanist Karl Vossler 1924 in Auszügen veröffentlicht. Seine Edition in teilweise modernisierter Orthographie, mit vielen flüchtig nacherzählten Auslassungen und sehr rudimentären Anmerkungen, entspricht keinem wissenschaftlichen Standard und wird auch Balatris Texten nicht gerecht. Weder Vossler noch die Herausgeber von "Santa Margherita" wussten um die Existenz des Moskauer Manuskripts. Auch die spärlichen Erwähnungen von Balatri in der westlichen Literatur- und Musikgeschichte gehen bis weit in die 1990er Jahre davon aus, dass "Frutti del Mondo" seine einzige Autobiographie ist. Jahrzehntelang lag "Vita e Viaggi" gut verborgen hinter dem eisernen Vorhang, erwähnt nur in zwei russischen Artikeln, die kurz nach dem Erwerb des Manuskripts in der Publikationsreihe der Handschriftenabteilung der Lenin-Bibliothek erschienen sind - eine Zeitschrift, die bei Romanisten oder Experten für barocke Musikgeschichte nicht zur täglichen Lektüre gehört.

Erst in den späten 90er Jahren fand "Vita e Viaggi" den Weg zurück in den Westen. Auch hier sind es Osteuropa-Historiker, die sich mit Balatris Hauptwerk beschäftigen: Daniel L. Schlafly in St. Louis, der zwei Artikel über "Vita e Viaggi" schrieb, und schließlich Maria Di Salvo in Mailand: Sie arbeitet derzeit an einer vollständigen Edition.



© 2004 by Christine Wunnicke