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"Die Nachtigall des Zaren":
Rezension von Hans Pleschinski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 6. November 2001

(Druckversion leicht gekürzt)

Der Khan hört gern Sopran
Christine Wunnickes bockiger Kastrat

"Wer verrückt geboren wird, der wird nie geheilt. So sagt das Sprichwort. Und mir gefällt es nun einmal, gute Laune zu haben, und dabei werde ich bleiben, bis ich alle viere von mir strecke." - 'Vita e Viaggi' und 'Frutti del Mondo' heißen die beiden Werke, in denen solche rüstigen Vorhaben festgehalten sind. Neun handschriftliche Bände 'Leben und Reisen' lagern in einer Moskauer Bibliothek. Die einzigartigen tausend gereimten Strophen von 'Früchte der Welt' werden in der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrt: "Ich bin um eine Antwort recht verlegen. Sag ich ein Mann? Die Lüge ist banal. Sag ich ein Weib? Das sag ich nicht, von wegen! Und ich erröte, sage ich neutral."

In einer Biographie mit Übersetzungen hat die Münchener Schriftstellerin ChristineWunnicke nach gut zweihundertfünfzig Jahren einen Schatz ans Licht gehoben. Die Erinnerungen eines Kastraten, Reiseberichte des charmantesten Erdenkinds, das man sich vorstellen kann: "ich sammle, wie eine Ameise, meine Vorräte für die Ewigkeit."
Selbst Musikologen dürfte Filippo Balatri bis jetzt kein Begriff gewesen sein. Dieser Sänger zeigte wenig Neigung auf einer Bühne zu glänzen, er sang im Schatten seiner Kollegen Senesino und Farinelli und war's zufrieden, wenn er über eine Opernpremiere notieren konnte: "Wir haben angefangen, dann haben wir mit gutem Beifall weitergemacht, schließlich sind wir fertig geworden, ohne daß man uns ausgebuht hätte."

Balatri wurde 1682 in Pisa geboren. Dem Knaben widerfuhr ein seinerzeit typisches Unglück. Er sang zu gut im Kirchenchor. In Absprache mit Cosimo III., Großherzog der Toskana, willigte der Vater in die Kastration seines jüngsten Sohns ein. In der Hofkapelle des frömmelnden Medici sollte der entmannte Filippo den Lobpreis Gottes intonieren. Doch das Schicksal meinte es noch weitaus schwieriger mit dem lockigen, nicht resignierten Burschen. Der Großherzog verschenkte den Siebzehnjährigen in die Wüste, an den Zarenhof Peters I.. Im Kreml sollte das halbe Kind nicht nur singen, sondern die Russen vom Katholizismus überzeugen und völkerkundliche Studien für Florenz betreiben. Das war eine mehr als herkuleische Bürde für einen Sopranisten, der im Gefolge des Fürsten Golizyn gen Osten verfrachtet wurde. Endlose Wälder in Kärnten, zu viel Schnee in Wien, Rast in Polen: "Manchmal lief mir ein Schwein übers Gesicht, eines Nachts wurde ich von einem Fladen beglückt, den mir eine Kuh genau zwischen Brust und Hals legte." Auf Moskaus Wällen begrüßten gepfählte Aufständische das über den Schlittenrand spähende Geschöpf aus der Toskana. Doch zeigt sich Balatris Lebens- und Überlebenskunst früh in einem knappen Eintrag: "Damit mich keiner beim Weinen ertappte, und weil ich das einfach nicht bleiben lassen konnte, schloß ich mich im Klosett ein und veranstaltete dort in aller Freiheit ein sehr großes Geheule."

Aber es wird erst völlig verrückt, und auch schön. Der erste Kastrat jenseits der Weichsel entwickelt sich zum Hätschelkind von Moskowiterinnen, Peter der Große überhäufte ihn mit Pralinen und Vertrauen, und der nicht uneitle neutrale Jüngling singt so ausgiebig, daß er schließlich auf dadaistische Nonsens-Verse verfällt, da ohnehin niemand etwas versteht: "Wen juckt's , ich hatte mich sowieso längst daran gewöhnt, immer den Ton zu gurgeln, der mir gerade einfiel." Balatri avancierte zum einzigem Kastraten, der jemals - jenseits des Stammesgebiets der Mordwinen - in der Wilden Tarterei vor dem Großkhan, dessen lederbekleidete Krieger "wie Koffer herumliefen", Da-Capo-Arien anstimmte. Die Wilden lynchten den seltsamen Vogel mit Spitzenmanchetten nicht. Vielmehr war der Khan so entzückt, daß er dem Wunderwesen das höchste Privileg angedeihen ließ und ihm das Hammelfleisch vorkaute. Als der Italiener doch einmal in Gewahrsam genommen wurde, sang er so lange Koloraturen, bis die Horden ihn freiließen und Stille in der Steppe herrschte. Belcanto erwies sich als die Vielzweckwaffe des bedrängten Profis in einer nicht als gastlich determierten Welt: "Hier liegt einer kleiner Tölpel und Kastrat, er ritt zu weit, dann fiel er auf die Nas'. Aus Pisa kam er angereist und hat sein Grab in diesem Meer aus Gras."

Liebevoll eingestimmt auf die bockige Gottergebenheit ihres wiederbelebten Helden, läßt Christine Wunnicke die Stationen eines geschüttelten Lebens Revue passieren. Balatri gefällt sich darin, als Mädchen verkleidet sich in Moskau zu tummeln, über das er bald mit großer Herzenswärme schreibt. Grausam verlief für den zur Kunst verstümmelten Künstler die Liebe einer Kaufmannstochter, die er körperlich nicht erwidern konnte: "Bellen kann ich wohl, beißen aber nicht." Die Bemerkung beinhaltet eine Tragödie, die der empfindliche Lebenskünstler peu-à-peu für sich zur Tragikomödie erklärte. Erfolgreich wehrt er sich, jemals nackt erblickt zu werden.

Kunst und Reisen, später die Gesellschaft seines Bruders ersetzen üblichere Lebensverhältnisse. Balatri wird nach Florenz zurückberufen, wo er Zwangsdolmetscher wird, bis ihm ein Engagement nach London neue Freiheit verschafft. Er lernt den Komponisten "Giorgio Endel" kennen, hört Konzerte der Fleischerinnung und amüsiert sich über ein Englisch, das ihm grotesk vorkam: "Sanababicc!", "Gaddeniur!" - Son of a bitch. God damn you.

Von Düsseldorf bis Venedig begeisterte Balatri mit einer selbst komponierten Nachtigallenarie, die ihn derartig forderte, daß er seine Zuhörer warnte: "daß ich dabei die Vibration meiner Mandeln bis zu den Schuhschnallen spüre, daß es die Salze meines Körpers trenne... und daß ich wahrscheinlich bald eine Fehlgeburt bekäme." Das alternde Brüderpaar wollte sich am Canal Grande zur Ruhe setzen. Es bekam gottseidank nicht die erwünschte Wohnung, in der wenige Tage später neue Mieter vom Vermieter getötet und zerstückelt wurden.

Seinen letzten Aufenthalt nahm der Kastrat und Chronist in Bayern, wo er in der Münchener Oper gefeiert wurde, aber lieber mit dem Fürstbischof von Freising musizierte: "Wenn Hoheiten etwas wollen, dann wollen sie es, weil sie es wollen, und wenn sie es wollen, weil sie es wollen, so zweifle man nicht, daß sie auch ein Mittel finden, das Gewollte zu kriegen, einfach weil sie es so sehr wollten."

Nach dem Tod seines Bruders zog Filippo Balatri sich in die Zisterzienserabtei von Fürstenfeldbruck zurück, wo er 1756 starb. Balatris freundliche, bisweilen ungestüme Lebhaftigkeit wirkt bis heute ansteckend. Seine ungewöhnlichen Erinnerungen und die erste Biographie über ihn spiegeln ein Leben wider, das der Pisaner wie ein unbekanntes Arioso meisterte: "Ach der, das war ein gewisser Filippo B."




© 2004 by Christine Wunnicke