Ronettes, "Sleighride"
Erzähler:
Am
2. Februar 2003 kommen in einem Nachtclub am Sunset Strip ein Gast
und eine Animierdame ins Gespräch. Vielleicht kennen sie einander
schon, vielleicht auch nicht. Der Mann, Phil Spector, läd die
Frau, Lana Clarkson, zu sich nach Hause ein, und sie steigt in seine
Limousine. Lana ist eine hochgewachsene Blondine, 40 Jahre alt. Sie
schlägt sich in Los Angeles als Hostess durch und verkauft ihre
Pinups im Internet. Eigentlich ist sie Schauspielerin; mit Roger Cormans
Film "Die Barbarenkönigin" wurde sie in den 80er Jahren
fast ein bisschen berühmt. Phil ist 62, ein kleiner Mann mit
einer Vorliebe für große Perücken. Er hat eine sprechende
Armbanduhr, einen weißen Rolls-Royce und ein Haus mit 33 Zimmern
im Vorort Alhambra, das aussieht wie eine Pyrenäenburg. Es wird
rund um die Uhr mit klassischer Musik beschallt, Beethoven, Wagner,
Sibelius. Seit er alle seine Bodyguards entlassen hat, ist Phil in
seiner Burg ziemlich allein. Phil Spector war einmal und ist vielleicht
noch immer der berühmteste Pop-Produzent der Welt. Im Musikzimmer
steht eine antike Jukebox mit all seinen Hits – 72 mal in den
Charts, 17 mal die Top Forty. Der Stecker ist gezogen.
Spector:
Geisteskrank
ist ein hartes Wort. Ich war nie geisteskrank. Ich war aber auch nicht
gesund genug, um in der Gesellschaft zu funktionieren. Deshalb ließ
ich's irgendwann bleiben.
Erzähler:
Anfang 2003 gab Phil Spector einer englischen Zeitung ein Interview.
Davor schwieg er – 25 Jahre lang.
Spector:
Ich rede nicht gerne. Ich halte es nicht aus, wenn man über mich
redet. Ich halte es nicht aus, wenn man mich anschaut. Ich halte es
nicht aus, fotografiert zu werden. Ich halte das Interesse nicht aus.
Erzähler:
Phil sammelt Waffen und hat nicht oft Besuch.
Spector:
Ich lebe in einer düsteren Gegend. Das Jahr ist aufgeteilt in
einen Tag und eine Nacht. Die Geschichte fließt draußen
vorbei. Und wenn die Luft hier so gut ist, kommt das daher, dass die
anderen Leute ihre Fenster zumachen.
Erzähler:
Kaum eine Stunde, nachdem Lana Clarkson Phils Pyrenäenburg betreten
hat, fallen Schüsse. Jemand ruft die Polizei. Man findet Lana
tot in der marmornen Eingangshalle, ins Gesicht geschossen. Phil ist
verwirrt, schlägt um sich. Die Polizei setzt ihn mit einer Elektroschock-Waffe
außer Gefecht. Als er wieder zu sich kommt, sagt er, das habe
er nicht gewollt. Später sagt er, Lana Clarkson habe Selbstmord
begangen. Es gibt keine Zeugen. Phil Spector ist frei gegen eine Kaution
von einer Million Dollar. Der Prozess wird seit dreieinhalb Jahren
immer wieder verschoben.
Spector:
Ich versuche, mein Leben vernünftig zu kriegen. Glücklich
werde ich nie. Aber vernünftig sein ist mal ein Anfang. Es ist
sehr schwer. Sehr schwer, vernünftig zu sein.
Teddy Bears, "To know him is to love him"
Erzähler:
Harvey Phillip Spector und seine große Schwester Shirley wachsen
in der Bronx auf, die freundlichen, pausbäckigen Kinder einer
russisch-jüdischen Arbeiterfamilie. Harvey hat Asthma und bescheißt
beim Monopoly; sonst ist nichts an ihm auszusetzen. Er singt mit seinem
großen, dicken, immer gut gelaunten Vater lauthals um die Wette.
Dann geht etwas schief mit Vater Spector. Geldsorgen, Depression.
1949 steckt er einen Gartenschlauch in den Auspuff seines Autos, das
andere Ende ins Fenster, lässt den Motor an. Harvey ist neun
Jahre alt. Er lernt die Grabinschrift seines Vaters auswendig: "To
know him was to love him".
Sieben
Jahre später. Die Witwe Spector ist mit den Kindern nach Los
Angeles gezogen. Arme Leute, fehl am Platz und auch ein bisschen durchgedreht,
immer Radau bei den Spectors in West Hollywood. Harvey bekommt alles
ab – alle Wut, alles Elend, alle Liebe von Mutter und Schwester.
Sie bewachen jeden seiner Schritte. Dauernd das Geschrei: "Harvey,
Harvey, Harvey". Harvey beschließt, fortan Phil zu heißen.
Er
mag sich nicht. Klein, mager, große Nase, große Ohren,
fast kein Kinn, und bleich wie ein Vampir unter der erbarmungslosen
kalifornischen Sonne. Er ist furchtbar schüchtern, hat immer
gute Noten, weiß alles über Abraham Lincoln. Er spielt
fantastisch Gitarre, hört Bach und Jazz und Wagner und träumt
vom großen Ruhm als Popstar. Er hat auch eine Art Band, alles
Schulkameraden, die ihm seltsamerweise aufs Wort gehorchen. Eines
Nachts fällt ihm Vaters Grabstein ein. Phil macht ein Lied daraus
– "To know him is to love him", der Seufzer eines
unglücklich verliebten Mädchens. Zuckersüße Schnulze
im Walzertakt. Und in der Mitte dann fast ein Verzweiflungsschrei.
Teddy
Bears "To know him is to love him"
Erzähler:
Vier Teenager mieten ein Studio: GoldStar – was für ein
Name! 15$ die Stunde plus 6$ fürs Tonband. Man muss lange Geld
sammeln, bis man sich das leisten kann. Phil Spector, Marshall Lieb,
Michael Spencer und ein winziges pummeliges Mädchen namens Annette
Kleinbard; eine Band ohne Namen. Phil ist sehr still, sehr verlegen.
Dann herrscht er plötzlich den Tontechniker an. Phil will Overdubs
– Unmengen davon, viel mehr, als eine Zweispurmaschine eigentlich
erlaubt. Wie ein aufgekratzter Floh springt er zwischen Aufnahme-
und Kontrollraum hin und her, singt, spielt Gitarre, spielt auch sonst
alles, kommandiert plötzlich wie ein Feldherr. Era Records hört
sich die Testpressung an. Bezahlt noch einmal zwei Stunden Studio
für Platte Nummer zwei. Hier, auf der B-Seite, aufgenommen und
abgemischt in einer hektischen halben Stunde, das Lied vom Grabstein,
"To know him is to love him." Die Band gibt sich einen Namen:
The Teddy Bears. Era Records nimmt verwundert Bestellungen entgegen,
180 Stück, dann 1000, dann 18.000. Die Radio-DJs drehen die Single
immer um. Im September 1958 ist "To know him is to love him"
in den Charts, Platz 88. Im November steht es auf Platz eins.
Teddy Bears,"Seven lonely nights"
Erzähler:
Die drei minderjährigen Teddy Bears – Michael Spencer hat
Phil inzwischen gefeuert – müssen auf Reisen gehen. Starr
vor Angst singen sie Playback zu ihrem Hit, erst im Fernsehstudio,
dann im Ziegfeld Theater am Broadway, Annette im Kleidchen, Phil und
Marshall in himmelblauen Sportpullis, auf die ihre Namen gestickt
sind. Mit von der Partie ist die selbsternannte Managerin: Phils Schwester
Shirley, ketterauchend, sehr laut, sehr meschugge: der Alptraum der
Annette Kleinbard –
Zitatorin:
Die war tough! Ich war mit ihr in einem Zimmer, und ich hatte solche
Angst, da bin ich in Phils und Marshalls Zimmer und hab da die ganze
Nacht geweint!
Erzähler:
Die erste Langspielplatte floppt. Alle sind verzankt. Das schöne
viele Geld verschwindet. Phil bescheißt, wie damals beim Monopoly.
Annette hat einen schweren Autounfall, die Nase ist weg, das ganze
Gesicht zerschnitten. Einer sagt, Phil habe gesagt, schade, dass sie
nicht tot ist. Das Ende der Teddy Bears. Phil Spector hat seinen ersten
Top-One-Hit und seine erste Band hinter sich. Er ist achtzehn Jahre
alt.
Phil Harvey Band, "Bumbershoot"
Erzähler:
Phil versucht sein Glück mit Livemusik, steht im Gangster-Look
auf der Bühne und hasst es. Er möchte unsichtbar sein, der
Macchiavelli im Kontrollraum. Richard Wagner, sein großes Idol,
hat schließlich auch nicht selber den Siegfried gesungen.
Phil Spector bezirzt Lester Sills, einen der einflussreichsten Talentsucher
der Musikszene von LA. Sills verschafft dem gewesenen Teddy Bear einen
Plattenvertrag ohne Platte. Phil hat freie Hand. Lester Sills adoptiert
ihn auch fast, Phil zieht in sein Haus, teilt ein Zimmer mit Lesters
zehnjährigem Sohn, den er bald zum unbezahlten Notenkopisten
ausgebildet hat. Phil Spector konstruiert seine erste synthetische
Band, "Spector's Three". Die Musik ist am Mischpult zusammengepuzzelt,
man weiß nicht, wer wirklich spielte und sang, die Gesichter
auf dem Plattencover sind beliebige Teenager. "Spector's Three"
gehen schief, trotz dem himmlischen Halleffekt. Phil ist beleidigt.
Aber er will ohnehin keine kleinen Brötchen backen. Er will ohne
Umweg auf den Parnass. Mit Lester Sills Empfehlung fliegt er nach
New York – Brill Building, Leiber & Stoller.
Zitatorin:
Ich
glaube, Mike und Jerry hatten gar keine Ahnung, was für ein Intrigant
das war.
Spector's Three, "Mr. Robin"
Erzähler:
Hier wird es kompliziert. Selbst einem geübten Chronisten der
Cosa Nostra fiele es schwer, den Wirrwarr von Machinationen und täglich
wechselnden Loyalitäten zu durchschauen, der die große
Popmusikmaschine am Broadway in Bewegung hält. Das berühmte
Songschreiber- und Produzentenduo Jerry Leiber und Mike Stoller, das
den mageren Jüngling aus Kalifornien nichtsahnend auf dem Bürosofa
kampieren lässt, ist keineswegs die einzige Macht, mit der man
rechnen muss. Amerika hat den Teenager als Marktfaktor entdeckt, und
der Teenager will rund um die Uhr beschallt werden: Mit Songs zum
Tanzen, Songs für die Liebe, Songs für Freud und Leid. Das
legendäre Brill Building nördlich des Times Square funktioniert
wie eine Legefabrik: 165 Popmusikunternehmen sind hier auf engstem
Raum zusammengepfercht –
Zitatorin:
Jeden Tag hast du dich in dein Kabuff gequetscht, Klavier und Klavierschemel
und mit etwas Glück noch ein Stühlchen für den Texter,
und im Kabuff nebenab waren gleich die nächsten, die vielleicht
gerade genau denselben Song gemacht haben wie du, und immer schrie
einer, "wir brauchen den nächsten Superhit", es war
ein riesiger Druck.
Erzähler: So Carole King. Es dauert nicht lange, und auch sie
schreibt Songs für Phil Spector. Nach dem ersten Schreck lebt
er sich in New York gut ein – erschreckend gut. Er gedeiht hervorragend
in dem intriganten Durcheinander, und kaum hat er das Sofa der Herren
Leiber und Stoller gegen ein winziges Appartement eingetauscht, ist
er unterwegs. Er lernt die richtigen Leute kennen, und lässt
sie sofort wieder fallen, sobald ein noch richtigerer des Weges kommt.
Er charmiert die erfolgreiche Songschreiberin Beverly Ross, die ihn
unter ihre Fittiche nimmt, und dann klaut er ihre Ideen und rennt
damit zu Jerry Leiber. Aus einer geklauten Idee wird das unverwüstbare
"Spanish Harlem".
Ben E. King, "Spanish Harlem"
Erzähler:
Mit Dracula-Cape, Regenschirm und weißen Galoschen, unterm Arm
einen Laib Brot, an dem er ständig herumnibbelt wie ein Meerschweinchen,
gibt Phil den Durchgeknallten. "Spanish Harlem" singt er
zum ersten Mal in einem Hotelzimmer, in der Unterwäsche rittlings
auf dem Fernsehgerät, während sich irgendein Assistent irgendeines
Label-Bosses mit irgendwelchen Huren im Bett vergnügt. New York,
New York.
Ray Peterson, "Corinna, Corinna"
Zitator:
Phil war wie Minerva, die aus Jupiters Kopf steigt! Hatte alles in
sich! Völlig komplett!
Zitatorin:
Das war ein ziemlich überhebliches Kerlchen.
Spector:
Mein großes Vorbild ist Heinrich VIII. Der ist dem Ideal kompletter
Gemeinheit so nahe gekommen, wie es die Schwäche der menschlichen
Natur überhaupt nur erlaubt.
Erzähler:
Mitte 1961 hat Phil Spector acht Singles in der Hitparade. Man hofiert
ihn in New York und Los Angeles. Ein unglaublicher Deal mit Elvis
Presley und Bobby Darin platzt, hier hat Phil einmal zu viel beschissen.
Niemand nimmt es ihm übel. Er bekommt einen Job bei Atlantis
Records, dicker Chefsessel, riesiger Schreibtisch; die Leute, die
zum Vorsingen bestellt sind, sitzen stundenlang im Wartezimmer, manchmal
kommt Phil, manchmal auch nicht. Er trägt Plateauschuhe und kleine
Robin-Hood-Mützen. Er ist noch längst nicht dort, wo er
hinwill. Phil Spector sagt Atlantis – unter Mitnahme sämtlicher
Vorschüsse – Lebewohl und gründet mit Lester Sills
seine eigene Plattenfirma in Hollywood. Philles Records. Er ist jetzt
zwanzig Jahre alt.
Crystals, "He's a Rebel"
Erzähler:
Phil Spector kehrt zurück ins Gold Star Studio. Das liebt er
am meisten, das kann er am besten: Produzieren. Es ist die Hölle,
mit Phil zu produzieren. Ohne blutende Finger kommt kein Gitarrist
davon, und kein Sänger kann danach noch reden. Und zweihundert
Playbacks sind das mindeste. Immer volle Lautstärke. Phil schreit,
jammert, johlt, wirft mit Gegenständen, wälzt sich auf dem
Boden. Dann zwingt er alle stundenlang im Dunkeln zu sitzen, wegen
der Romantik. Tag für Tag telefonisch betreut von einem New Yorker
Psychiater namens Dr. Kaplan, jagt er seinen Visionen nach.
Spector:
Meine
Platten sind gebaut wie Wagneropern. Sie fangen einfach an und enden
mit gewaltiger Dynamik, Bedeutung, Absicht. Es ist in alles meinem
Kopf. Ich träume es. Ich wollte die Musikindustrie ein bisschen
... anschubsen.
Erzähler:
Andrew Oldham, Manager der Rolling Stones und ein großer Fan
von Phil Spector, hat dem akustischen Größenwahnsinn des
Pop-Wagners einen Namen gegeben: Wall of Sound. Die Klangwand wird
Phils Markenzeichen. Immer von allem zu viel: Zu viele Leute im Studio,
zu viele Instrumente, zu viele Overdubs, zu viel Hall, Übersteuerung
bis zur Verzerrung, ein Musikbrei, überwältigend, übertrieben,
immer auch ein bisschen widerwärtig, man überfrisst sich
am Wall of Sound, man kann nicht genug kriegen. Und dazu die penetrante,
herrlich verlogene süße Unschuld der Songs.
Zitator:
Ich wollte das Band beschriften und habe ihn gefragt, wie der Song
heißt, und Phil hat gesagt, "Zip-a-dee-doo-dah". Ich
meine ... das ganze Studio wackelt von diesem riesigen Boom-boom-boom,
und ich meine ... als ich verstanden habe, dass das wirklich "Zip-a-dee-doo-dah"
heißen soll ... da bin ich echt vom Stuhl gefallen.
Bob B. Soxx and the Blue Jeans, "Zip-a-dee-doo-dah"
Erzähler:
Philles Records startet durch mit zwei Girl Groups, den Crystals und
den Ronettes. Sie sind Lehm in Spectors Händen, ihre Hits Studio-Artefakte,
niemanden interessiert der künstlerische Ausdruckswille irgendwelcher
Crystals oder Ronettes. Lester Sills, Phils guter Ersatzvater und
Mentor, wird als Teilhaber des Labels abgeschafft, bevor er überhaupt
weiß, wie ihm geschieht. Phil Spector duldet keine Götter
neben sich. Er hat ein gutes Team – den Arrangeur Jack Nitzsche,
den Techniker Jerry Levine, dazu einen jungen Mann namens Sonny Bono,
der als Testhörer dient. Bei jeder Platte fragt ihn Phil, "Sonny,
ist das blöd genug?" Phil Spector hat auch geheiratet, ein
blondes Mädchen namens Annette. Dann hat er ein Techtelmechtel
mit Ronnie von den Ronettes, die heiratet er als nächstes. Phil
Spectors Frau zu sein, scheint ein schweres Los. Unzählige Anekdoten,
niemand weiß, was wirklich stimmt. Hat er tatsächlich einen
Chirurgen angestellt, der seiner kerngesunden Ronnie die Beine eingipste,
damit sie nicht fortlaufen konnte? Zwingt er sie wirklich, immer eine
Phil-Spector-Gummipuppe im Auto mitzunehmen, damit sie den Liebsten
auch keine Minute vergisst? Phil Spector spinnt. Mit vierundzwanzig
ist er Millionär. Tom Wolfe tauft ihn "The First Tycoon
of Teen".
Ronettes, "Be My Baby"
Erzähler:
Philles Records spuckt einen Hit nach dem anderen aus. "Be my
baby", "There's no other like my Baby", "Uptown",
"He's a Rebel", "He's sure the boy I love", "Da
doo ron ron", "Then he kissed me". Phil Spector läuft
mit einem T-Shirt herum, auf dem Beethovens Gesicht abgebildet ist.
Seine Studiomusiker lassen sich dann T-Shirts mit Phil-Spector-Foto
drucken.
Zitatorin:
Oh, das hat ihm gefallen!
Erzähler:
Eine Single der Crystals wird kein Hit. Radiosender weigern sich,
sie zu spielen, und sie wird bald vom Markt genommen. Es ist ein Song
aus der Feder von Carole King, der das Glück verprügelter
Frauen besingt: "He hit me (and it felt like a kiss)".
Zitator:
Phil ist selber ein Masochist.
Zitatorin:
Klar, Phil ist der absolute Sadist!
Erzähler:
Phil Spector hat die kleine Prügelhymne liebevoll produziert.
Es sind keine Faustschläge, eher ein Stock oder gar eine Peitsche;
ein Klassiker für Kenner. In Andy Warhols Factory in Manhattan
dreht sich die Single Tag und Nacht.
Zitator:
Wir haben das furchtbar geliebt, weil der Text so krank ist!
Crystals, "He hit me (and it felt like a kiss)"
Erzähler:
Eine exquisite Scheußlichkeit anderer Art ist das Album "A
Christmas Gift For You" von 1963. "Rudolph the Red-Nosed
Reindeer", "White Christmas", "Frosty the Snowman":
aufpolierte Weihnachtslieder für die Rock'n'Roll Generation.
Man darf sogar, zu den Klängen von "Stille Nacht, Heilige
Nacht", die Stimme des Meisters hören; ein seltener Genuss.
Sanftmütig wünscht der Sadist uns allen ein frohes Fest.
Onkel Phil, der Weihnachtsmann der Nation.
"A Christmas Gift for You", "Silent Night":
Text "May we wish you the very merriest of Christmas ...",
Musikschnitt an "I saw Mama ..."
Erzähler:
Es geht ihm nicht gut. Er ist schlaflos, hektisch, panisch, paranoid.
Karatestunden, mehrere Bodyguards und der leidgeprüfte Dr. Kaplan
können die Angst nicht besiegen. Phils Mitarbeiter freuen sich
nicht, als er seine erste Pistole kauft. Auch seine Platten trösten
ihn nicht. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Phil Spector ist
keinesfalls ein Fan von Zuckerpop und Weihnachtsliedern. Zuhause hört
er den Ring der Nibelungen, Jazz, Soul, Rhythm&Blues. Er sehnt
sich nach wahrer Leidenschaft, nach Musik, die aus dem Herzen kommt
– und sich gleichzeitig gut verkauft. Die Rettung kommt in Gestalt
der Herren Medley und Hatfield alias "The Righteous Brothers".
Sie sind weiß und ihre Musik klingt schwarz, eine heftige Mischung
aus Blues und Soul und Gospel. Phil ist hingerissen. Zusammen mit
Barry Mann schreibt er einen passionierten Klagegesang über den
Niedergang einer großen Liebe, "You've lost that lovin'
feelin'". "Du schließt die Augen nicht mehr, wenn
ich dich küsse, und aus deinen Fingerspitzen ist die Zärtlichkeit
verschwunden ..." Phil Spector bestellt die Righteous Brothers
ins Studio. Bill Medley fühlt sich geehrt – und wundert
sich:
Bill Medley O-Ton:
So they wrote this ballad and Phil Spector and Barry Mann sat down
at the piano and sang it to us. And they both had real high voices.
And when they got done I said man, that's a great song for The Everly
Brothers. Cause they sounded like The Everly Brothers. They had these
real high thin voices. And I couldn't imagine this was the song Phil
Spector wanted to do with us. Two crazy little rock and roll guys.
So we started learning it and the complexion of the song changed dramatically
by trying to find the right key because the song has a pretty huge
range to it. And to get up to "you've lost that lovin feelin"
real high note you have to start out low. We started out (singt) "you
never close your eyes anymore" and than I couldn't get to "you've
lost that lovin feelin" So we'd drop a little lower to "you
never close .." lower to "you never close ..."
Zitator (Bill Medley VO):
Sie haben diese Ballade geschrieben und Phil Spector und Barry Mann
setzten sich ans Klavier und sangen sie uns vor. Sie hatten beide
sehr hohe Stimmen. Ich habe gesagt, toller Song – für die
Everly Brothers! Sie klangen nämlich wie die Everly Brothers,
diese ganz hohen, dünnen Stimmen. Ich konnte mir nicht vorstellen,
was Phil Spector damit bei uns wollte. Zwei verrückte kleine
Rock'n'Roll-Typen ... Wir haben den Song dann gelernt und versucht,
die richtige Tonart zu finden. Dabei hat er sich sehr verändert
...
Righteous Brothers "You've lost that lovin' feelin' "
Erzähler:
Die Righteous Brothers leisten rechtschaffene Arbeit. Dann kommt die
Spector-Keule. Der Meister zieht noch einmal alle Register und türmt
einen Wall of Sound auf, wie ihn die Welt noch nicht gehört hat.
"You've Lost That Lovin' Feelin'" wird ein gewaltiger Erfolg,
Woche um Woche steht es auf Platz eins der internationalen Hitparaden.
Die Righteous Brothers staunen. Was hat das auf sich mit dem Wall
of Sound? Irgendein Dreiklang, und dann lauter Instrumente, die alle
dasselbe spielen ... Den Righteous Brothers hat sich Spectors Magie
nicht wirklich erschlossen.
Bill Medley O-Ton:
The Wall of Sound is ...what the word says. No more than a wall of
sound. It's taking a triad chord, it's taking three pianos, playing
exactly the same thing, three or four guitars, playing exactly the
same thing, two basses, playing exactly the same thing ...
Righteous
Brothers "You've lost that lovin' feelin' "
Erzähler:
Kann man das noch toppen? Ein Phil Spector kann. Philles Records dümpelt
fröhlich auf der Erfolgswelle der Righteous Brothers, aber der
Boss brütet über seinem Meisterwerk. Lange genug hat er
die Teenager mit Marshmallows gefüttert – jetzt will er
ihnen an die Halsschlagader. Lange findet er keinen, der seiner Apotheose
würdig gewesen wäre. Dann findet er jemanden: Eine junge
Frau mit einer gewaltigen Stimme und einem brutalen Mann: Tina Turner.
Es heißt, Phil Spector habe Ike Turner ein Lösegeld von
20.000$ gezahlt, nur um Tina einmal ausleihen zu dürfen. Zusammen
mit Ellie Greenwich und Jeff Barry schreibt er einen Song für
sie: "River Deep – Mountain High". "Als ich ein
kleines Mädchen war, hatte ich eine Lumpenpuppe – die einzige
Puppe, die ich je besaß. Und jetzt liebe ich dich, wie ich damals
meine Lumpenpuppe liebte, how I love you, my oh my, river deep, mountain
high." Die Studio-Sessions sind legendär geworden. Stunde
um Stunde röhrt Tina ihre Liebes- und Lust- und Verzweiflungsschreie
in Phils Mikrophon, bis sie sich endlich die Kleider vom Leib reißt
und die Aufnahme unter Tränen, halb besinnungslos, in Unterrock
und BH zuende bringt, eine Hand am Kopfhörer, die andere zwischen
den Beinen. Keine spätere Aufnahme von "River Deep, Mountain
High", kann diesem grandiosen Gefühlsspektakel das Wasser
reichen. Und da soll einer noch behaupten, Phil Spector habe ein kaltes
Herz!
Tina Turner, "River Deep, Mountain High"
Erzähler:
"River Deep, Mountain High" ist Phil Spectors Götterdämmerung,
und sein Waterloo. Was er als Vollendung seines Werks ansieht, fällt
durch. Die Single floppt. Niemand weiß "River Deep, Mountain
High" zu schätzen. "Was ist denn das für ein Haufen
Krach?", fragen die Radio-Djs, "was ist denn das für
ein verdammtes Gegröhle?" Man schreibt das Jahr 1966. Ein
Zeitalter ist zuende. Phil Spector verschwindet von der Bildfläche.
Er ist fünfundzwanzig Jahre alt.
Spector:
River Deep war mein Abschied. Ich wollte mich nochmal austoben, wissen
Sie, ein paar Minuten austoben – vier Minuten auf Vinyl, mehr
ist das nicht gewesen. Ich habe es geliebt.
Erzähler:
Phil Spector versinkt in Suff und Schweigen. Er hat nicht einmal mehr
eine Gitarre im Haus. Philles Records stirbt einen langsamen Tod.
Der Meister schleicht durch Hollywood, im schwarzen Maßanzug,
auf dem Kopf Tirolerhüte oder Perücken oder beides. Dennis
Hopper überredet ihn zu einer Nebenrolle in "Easy Rider".
Phil spielt einen Kokaindealer. Aber auch auf der Leinwand sagt er
kein einziges Wort.
Spector:
Schade eigentlich, dass Noah und seine Mischpoche die Arche nicht
verpasst haben.
Erzähler:
Vier lange Jahre nach "River Deep, Mountain High" kommt
Phil Spector wieder aus der Versenkung. Es ist kein geringer Anlass,
der ihn hervorlockt: Jemand soll aus dem hinterlassenen Bandsalat
der verzankten Beatles eine Platte machen, die als würdiges Erbe
der größten Band der Welt durchgehen kann. Phil setzt sich
in den Keller von Apple Records in London und macht aus über
dreißig Stunden ungeschnittenen Studioaufnahmen das Album "Let
It Be".
Beatles,
"The long and winding road"
Seitdem hassen ihn Beatles-Fans fast so sehr wie Yoko Ono. Als vor
zwei Jahren unter dem Titel "Let it Be – Naked" eine
neue, spectorfreie Mischung der alten Bänder auf CD erschien,
frohlockte die Musikpresse, als habe man den Gottseibeiuns ausgetrieben.
Der Bombast ist weg! Spectors Schmalzkruste ist ab! Die widerlichen
Engelschöre endlich abgeschafft!
Spector:
Alle haben geschrieen, Oh, Beatles, ihr lieben Beatles, trennt euch
doch nicht, gebt uns doch wenigstens ein Andenken! Und dann gibt man
es ihnen und man kriegt eins in die Fresse. Es ist Scheiße,
es ist dieses, es ist jenes ... Aber das sind doch eure Beatles, eure
wundervollen Beatles! Vergesst doch meinen Namen!
Erzähler:
Zwei der einstmaligen Beatles scheinen Spectors Arbeit nicht allzu
sehr zu verachten. Er produziert "Imagine" mit John Lennon,
"All Things Must Pass" mit George Harrison. Immer Platz
eins der Charts. Phil Spector hasst die Welt. Er lässt seine
Bodyguards auf wildfremde Leute los, die ihn vielleicht schief angesehen
haben. Seine Ehe mit Ronnie wird endlich geschieden, das Gezerre um
die drei adoptierten Kinder beginnt, ein schreckliches Theater.
John Lennon "You can't catch me"
Erzähler:
1974 gibt es noch einmal Spaß mit John Lennon. Er säuft
jetzt mehr als Phil Spector, und das will etwas heißen. Es ist
nicht gemütlich im Studio. Phil schießt in die Fensterscheibe
und John Lennon bekommt solche Tobsuchtsanfälle, dass man ihn
mit Stricken an einen Stuhl fesseln muss. Das Ziel der Übung:
Eine Platte mit Rock'n'Roll-Klassikern. Keine Sternstunde in John
Lennons Biographie.
John Lennon O-Ton:
The Rock'n'Roll thing, yea. I put that within "no more 74",
you know. I don't wanna go through that again. (...) I started it,
and it took me two weeks to talk him into the fact that I was gonna
let him control it cause when I worked with him before I kept control
of it. And we got going, and it got madder and madder and madder and
then it collapsed and he vanished and then I got a note or I read
in the papers he had a car crash, one never knows because Phil was,
the least you could call it was eccentric - and that coming from someone
who was bombed ... Somehow or other he had the tapes, we cut seven
or eight tracks, so I was tapeless, and jobless, you know, I mean,
the thing that started out to be fun ended up funny.
Zitator (John Lennon VO):
Das gehört auch zu "nie mehr 1974". Das möchte
ich nicht nochmal erleben. Ich habe erstmal zwei Wochen gebraucht
um Phil zu überzeugen, dass er der Boss sein darf, und dann haben
wir angefangen und es wurde verrückter und verrückter, und
dann brach alles zusammen und Phil war weg. Dann las ich in der Zeitug,
dass er einen Autounfall hatte, aber man weiß ja nie, Phil war,
naja, sanft ausgedrückt ein Exzentriker ... ich muss gerade reden,
blau wie ich war ... Aber er hatte die Bänder. Und ich war bandlos,
und arbeitslos, und diese Sache, die eigentlich lustig werden sollte,
war dann eher ... komisch geworden.
Erzähler:
Der
Exzentriker hatte wirklich einen Autounfall. Mit dem Kopf voraus durch
die Windschutzscheibe seines Rolls Royce. Als er aus dem Krankenhaus
kommt, sprüht er seine Haare mit Silber- und Goldlack ein, um
von seinem zerschnittenen Gesicht abzulenken. Außerdem trägt
er die Pistole jetzt offen an der Hüfte.
Zitator:
Er musste eine Nacht ins Gefängnis, irgendein Polizist hat gedacht,
das ist so ein Charles-Manson-Spinner.
Erzähler:
Und Phil Spector verkriecht sich wieder, allein mit seinen Leibwächtern
in einem abgedunkelten Palast. Re-Issues der alten Hits erscheinen,
er hört Wagner, er lebt von seinen Tantiemen. 1977 ein schlimmer
kleiner Reinfall mit Leonard Cohen, zwei Kampftrinker zusammen im
Studio, die Platte, "Death of a Ladies‘ Man", eine
einzige Katastrophe. Und 1980 dann die verfluchten Ramones.
Ramones "Teenage Lobotomy" (It's Alive)
Erzähler:
So klingen die Ramones, wenn sie wie die Ramones klingen. Die beste
Punk-Band der Welt. Sie brauchen keinen Phil Spector und Phil Spector
braucht keine Ramones. Das erste, was er zu ihnen gesagt haben soll:
"Meine Bodyguards wollen eure Bodyguards verhauen." Und
dass ihn Joey Ramones Stimme an seine verflossene Ronnie erinnert.
Eine absurde Paarung, der frühpensionierte Pop-Tycoon und die
abscheulichen Ramones. Phil sperrt sie in seinem Haus ein, zeigt ihnen
rund um die Uhr alte Horrorfilme, die Hand an der Pistole. Johnny
Ramone keift herum, Dee Dee Ramone bibbert im Heroinentzug, Marky
Ramone organisiert kleine Fluchtversuche und der gute Joey fühlt
sich immer noch geschmeichelt, dass er wie Ronnie Spector klingen
soll. Er singt wirklich ein Lied von den Ronettes, "Baby I Love
You". Johnny Ramone spuckt aus. Die Platte heißt "End
of the Century", kein schlechter Titel. Sein Leben lang verflucht
Johnny Ramone den Tag, als er Phil Spector kennenlernte.
Johnny Ramone O-Ton:
So we hit the chord, he paces around the room for about three hours,
cursing – go back, play the chord again, play the chord, pace
around the room for three more hours, cursing at the engineer, this
goes on for twelve hours ...
He's a little man with lifts in his shoes, a wig on top of his head
and four guns. He's an asshole to everybody, treats everybody horrible.
Zitator (Johnny Ramone VO):
Wir spielen einen Akkord, er läuft drei Stunden fluchend im Zimmer
rum, kommt zurück, wieder ein Akkord, läuft wieder drei
Stunden rum, brüllt den Techniker an, und so geht das zwölf
Stunden lang.
Ein kleiner Mann mit Fersenerhöhung in den Schuhen, Perücke
und vier Pistolen. Er ist zu allen ein Arschloch.
Ramones "Baby I Love You"
Erzähler:
Die Jahrzehnte gehen ins Land. 1980, 1990, 2000. Phil Spector sitzt
mit der Sonnenbrille im Dunkeln. Wenn er einmal zum Vorschein kommt,
fällt er unangenehm auf. Er kommt nicht oft zum Vorschein. Phil
Spectors stolzes Elend. Ende 2002 will er dann plötzlich ein
neues Leben beginnen. Er setzt seine Psychopharmaka ab, hört
auf zu trinken, entlässt alle Bodyguards. Er traut er sich zum
ersten Mal wieder ins Studio. Mit der jungen englischen Band "Starsailor"
nimmt er zwei Songs für deren neues Album auf. Er geht wieder
öfter aus, fällt plötzlich angenehm auf, und sei es
nur wegen seiner 500-Dollar-Trinkgelder. James Stelfox, der Bassist
von "Starsailor", kann sich überhaupt nicht vorstellen,
wie jemand etwas gegen Phil Spector haben kann.
James Stelfox O-Ton:
He was great, one of the most charming people I met. Just very witty
and nice to be 'round, like, he tells you stories about John Lennon
shitting his pants or something, or Paul McCartney arguing, whatever
... Just great to hear his stories about the legends that you've grown
up loving, it's just amazing. So what I saw of him was a very charming
gentleman, and that I want him to stay for me. People keep saying,
oh, hear about when he did this, or when he pulled a gun on Joey Ramone
... he didn't do that to me, so I'm okay with it.
Zitator (James Stelfox VO):
Er war großartig, einer der charmantesten Menschen, die ich
kenne. Sehr witzig und angenehm, und er kann diese Geschichten erzählen,
wie sich John Lennon in die Hose gemacht hat und Paul McCartney rumgezankt
hat, lauter Geschichten über die alten Legenden, fabelhaft. Was
ich von ihm sah, war dieser sehr charmante Gentleman, und das soll
er für mich auch bleiben. Alle sagen dauernd, oh, das hat er
gemacht, und Joey Ramone hat er mit der Pistole bedroht ... Bei mir
hat er das nicht gemacht, und mir solls egal sein.
Erzähler:
Die Ermittlungen im Fall Lana Clarkson sind längst abgeschlossen.
Die Staatsanwaltschaft plädiert auf Mord. Im September soll der
Prozess endlich beginnen. Phil Spector sagt standhaft "not guilty".
Er ist mit dieser Meinung ziemlich allein.
Spector:
Was Glück ist? Glück ist ... Glück ist, wenn man sich
... wohl fühlt und keine miese Scheiße im Kopf hat. Das
ist Glück. Gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis.
Das ist Glück.
Tina Turner, "Save the Last Dance For Me"