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Mountain High, River Deep

Glanz und Elend des Impresarios Phil Spector


Radiofeature (Manuskript/Produktion) für BR, Ursendung 19.7. 2006

© Christine Wunnicke 2006



Ronettes, "Sleighride"


Erzähler:
Am 2. Februar 2003 kommen in einem Nachtclub am Sunset Strip ein Gast und eine Animierdame ins Gespräch. Vielleicht kennen sie einander schon, vielleicht auch nicht. Der Mann, Phil Spector, läd die Frau, Lana Clarkson, zu sich nach Hause ein, und sie steigt in seine Limousine. Lana ist eine hochgewachsene Blondine, 40 Jahre alt. Sie schlägt sich in Los Angeles als Hostess durch und verkauft ihre Pinups im Internet. Eigentlich ist sie Schauspielerin; mit Roger Cormans Film "Die Barbarenkönigin" wurde sie in den 80er Jahren fast ein bisschen berühmt. Phil ist 62, ein kleiner Mann mit einer Vorliebe für große Perücken. Er hat eine sprechende Armbanduhr, einen weißen Rolls-Royce und ein Haus mit 33 Zimmern im Vorort Alhambra, das aussieht wie eine Pyrenäenburg. Es wird rund um die Uhr mit klassischer Musik beschallt, Beethoven, Wagner, Sibelius. Seit er alle seine Bodyguards entlassen hat, ist Phil in seiner Burg ziemlich allein. Phil Spector war einmal und ist vielleicht noch immer der berühmteste Pop-Produzent der Welt. Im Musikzimmer steht eine antike Jukebox mit all seinen Hits – 72 mal in den Charts, 17 mal die Top Forty. Der Stecker ist gezogen.


Spector:
Geisteskrank ist ein hartes Wort. Ich war nie geisteskrank. Ich war aber auch nicht gesund genug, um in der Gesellschaft zu funktionieren. Deshalb ließ ich's irgendwann bleiben.


Erzähler:
Anfang 2003 gab Phil Spector einer englischen Zeitung ein Interview. Davor schwieg er – 25 Jahre lang.


Spector:
Ich rede nicht gerne. Ich halte es nicht aus, wenn man über mich redet. Ich halte es nicht aus, wenn man mich anschaut. Ich halte es nicht aus, fotografiert zu werden. Ich halte das Interesse nicht aus.


Erzähler:
Phil sammelt Waffen und hat nicht oft Besuch.

Spector:
Ich lebe in einer düsteren Gegend. Das Jahr ist aufgeteilt in einen Tag und eine Nacht. Die Geschichte fließt draußen vorbei. Und wenn die Luft hier so gut ist, kommt das daher, dass die anderen Leute ihre Fenster zumachen.


Erzähler:
Kaum eine Stunde, nachdem Lana Clarkson Phils Pyrenäenburg betreten hat, fallen Schüsse. Jemand ruft die Polizei. Man findet Lana tot in der marmornen Eingangshalle, ins Gesicht geschossen. Phil ist verwirrt, schlägt um sich. Die Polizei setzt ihn mit einer Elektroschock-Waffe außer Gefecht. Als er wieder zu sich kommt, sagt er, das habe er nicht gewollt. Später sagt er, Lana Clarkson habe Selbstmord begangen. Es gibt keine Zeugen. Phil Spector ist frei gegen eine Kaution von einer Million Dollar. Der Prozess wird seit dreieinhalb Jahren immer wieder verschoben.


Spector:
Ich versuche, mein Leben vernünftig zu kriegen. Glücklich werde ich nie. Aber vernünftig sein ist mal ein Anfang. Es ist sehr schwer. Sehr schwer, vernünftig zu sein.


Teddy Bears, "To know him is to love him"


Erzähler:

Harvey Phillip Spector und seine große Schwester Shirley wachsen in der Bronx auf, die freundlichen, pausbäckigen Kinder einer russisch-jüdischen Arbeiterfamilie. Harvey hat Asthma und bescheißt beim Monopoly; sonst ist nichts an ihm auszusetzen. Er singt mit seinem großen, dicken, immer gut gelaunten Vater lauthals um die Wette. Dann geht etwas schief mit Vater Spector. Geldsorgen, Depression. 1949 steckt er einen Gartenschlauch in den Auspuff seines Autos, das andere Ende ins Fenster, lässt den Motor an. Harvey ist neun Jahre alt. Er lernt die Grabinschrift seines Vaters auswendig: "To know him was to love him".

Sieben Jahre später. Die Witwe Spector ist mit den Kindern nach Los Angeles gezogen. Arme Leute, fehl am Platz und auch ein bisschen durchgedreht, immer Radau bei den Spectors in West Hollywood. Harvey bekommt alles ab – alle Wut, alles Elend, alle Liebe von Mutter und Schwester. Sie bewachen jeden seiner Schritte. Dauernd das Geschrei: "Harvey, Harvey, Harvey". Harvey beschließt, fortan Phil zu heißen.

Er mag sich nicht. Klein, mager, große Nase, große Ohren, fast kein Kinn, und bleich wie ein Vampir unter der erbarmungslosen kalifornischen Sonne. Er ist furchtbar schüchtern, hat immer gute Noten, weiß alles über Abraham Lincoln. Er spielt fantastisch Gitarre, hört Bach und Jazz und Wagner und träumt vom großen Ruhm als Popstar. Er hat auch eine Art Band, alles Schulkameraden, die ihm seltsamerweise aufs Wort gehorchen. Eines Nachts fällt ihm Vaters Grabstein ein. Phil macht ein Lied daraus – "To know him is to love him", der Seufzer eines unglücklich verliebten Mädchens. Zuckersüße Schnulze im Walzertakt. Und in der Mitte dann fast ein Verzweiflungsschrei.

Teddy Bears "To know him is to love him"

Erzähler:
Vier Teenager mieten ein Studio: GoldStar – was für ein Name! 15$ die Stunde plus 6$ fürs Tonband. Man muss lange Geld sammeln, bis man sich das leisten kann. Phil Spector, Marshall Lieb, Michael Spencer und ein winziges pummeliges Mädchen namens Annette Kleinbard; eine Band ohne Namen. Phil ist sehr still, sehr verlegen. Dann herrscht er plötzlich den Tontechniker an. Phil will Overdubs – Unmengen davon, viel mehr, als eine Zweispurmaschine eigentlich erlaubt. Wie ein aufgekratzter Floh springt er zwischen Aufnahme- und Kontrollraum hin und her, singt, spielt Gitarre, spielt auch sonst alles, kommandiert plötzlich wie ein Feldherr. Era Records hört sich die Testpressung an. Bezahlt noch einmal zwei Stunden Studio für Platte Nummer zwei. Hier, auf der B-Seite, aufgenommen und abgemischt in einer hektischen halben Stunde, das Lied vom Grabstein, "To know him is to love him." Die Band gibt sich einen Namen: The Teddy Bears. Era Records nimmt verwundert Bestellungen entgegen, 180 Stück, dann 1000, dann 18.000. Die Radio-DJs drehen die Single immer um. Im September 1958 ist "To know him is to love him" in den Charts, Platz 88. Im November steht es auf Platz eins.

Teddy Bears,"Seven lonely nights"

Erzähler:
Die drei minderjährigen Teddy Bears – Michael Spencer hat Phil inzwischen gefeuert – müssen auf Reisen gehen. Starr vor Angst singen sie Playback zu ihrem Hit, erst im Fernsehstudio, dann im Ziegfeld Theater am Broadway, Annette im Kleidchen, Phil und Marshall in himmelblauen Sportpullis, auf die ihre Namen gestickt sind. Mit von der Partie ist die selbsternannte Managerin: Phils Schwester Shirley, ketterauchend, sehr laut, sehr meschugge: der Alptraum der Annette Kleinbard –

Zitatorin:
Die war tough! Ich war mit ihr in einem Zimmer, und ich hatte solche Angst, da bin ich in Phils und Marshalls Zimmer und hab da die ganze Nacht geweint!

Erzähler:
Die erste Langspielplatte floppt. Alle sind verzankt. Das schöne viele Geld verschwindet. Phil bescheißt, wie damals beim Monopoly. Annette hat einen schweren Autounfall, die Nase ist weg, das ganze Gesicht zerschnitten. Einer sagt, Phil habe gesagt, schade, dass sie nicht tot ist. Das Ende der Teddy Bears. Phil Spector hat seinen ersten Top-One-Hit und seine erste Band hinter sich. Er ist achtzehn Jahre alt.


Phil Harvey Band, "Bumbershoot"

Erzähler:

Phil versucht sein Glück mit Livemusik, steht im Gangster-Look auf der Bühne und hasst es. Er möchte unsichtbar sein, der Macchiavelli im Kontrollraum. Richard Wagner, sein großes Idol, hat schließlich auch nicht selber den Siegfried gesungen.

Phil Spector bezirzt Lester Sills, einen der einflussreichsten Talentsucher der Musikszene von LA. Sills verschafft dem gewesenen Teddy Bear einen Plattenvertrag ohne Platte. Phil hat freie Hand. Lester Sills adoptiert ihn auch fast, Phil zieht in sein Haus, teilt ein Zimmer mit Lesters zehnjährigem Sohn, den er bald zum unbezahlten Notenkopisten ausgebildet hat. Phil Spector konstruiert seine erste synthetische Band, "Spector's Three". Die Musik ist am Mischpult zusammengepuzzelt, man weiß nicht, wer wirklich spielte und sang, die Gesichter auf dem Plattencover sind beliebige Teenager. "Spector's Three" gehen schief, trotz dem himmlischen Halleffekt. Phil ist beleidigt. Aber er will ohnehin keine kleinen Brötchen backen. Er will ohne Umweg auf den Parnass. Mit Lester Sills Empfehlung fliegt er nach New York – Brill Building, Leiber & Stoller.

Zitatorin:
Ich glaube, Mike und Jerry hatten gar keine Ahnung, was für ein Intrigant das war.

Spector's Three, "Mr. Robin"

Erzähler:
Hier wird es kompliziert. Selbst einem geübten Chronisten der Cosa Nostra fiele es schwer, den Wirrwarr von Machinationen und täglich wechselnden Loyalitäten zu durchschauen, der die große Popmusikmaschine am Broadway in Bewegung hält. Das berühmte Songschreiber- und Produzentenduo Jerry Leiber und Mike Stoller, das den mageren Jüngling aus Kalifornien nichtsahnend auf dem Bürosofa kampieren lässt, ist keineswegs die einzige Macht, mit der man rechnen muss. Amerika hat den Teenager als Marktfaktor entdeckt, und der Teenager will rund um die Uhr beschallt werden: Mit Songs zum Tanzen, Songs für die Liebe, Songs für Freud und Leid. Das legendäre Brill Building nördlich des Times Square funktioniert wie eine Legefabrik: 165 Popmusikunternehmen sind hier auf engstem Raum zusammengepfercht –

Zitatorin:
Jeden Tag hast du dich in dein Kabuff gequetscht, Klavier und Klavierschemel und mit etwas Glück noch ein Stühlchen für den Texter, und im Kabuff nebenab waren gleich die nächsten, die vielleicht gerade genau denselben Song gemacht haben wie du, und immer schrie einer, "wir brauchen den nächsten Superhit", es war ein riesiger Druck.
Erzähler: So Carole King. Es dauert nicht lange, und auch sie schreibt Songs für Phil Spector. Nach dem ersten Schreck lebt er sich in New York gut ein – erschreckend gut. Er gedeiht hervorragend in dem intriganten Durcheinander, und kaum hat er das Sofa der Herren Leiber und Stoller gegen ein winziges Appartement eingetauscht, ist er unterwegs. Er lernt die richtigen Leute kennen, und lässt sie sofort wieder fallen, sobald ein noch richtigerer des Weges kommt. Er charmiert die erfolgreiche Songschreiberin Beverly Ross, die ihn unter ihre Fittiche nimmt, und dann klaut er ihre Ideen und rennt damit zu Jerry Leiber. Aus einer geklauten Idee wird das unverwüstbare "Spanish Harlem".

Ben E. King, "Spanish Harlem"

Erzähler:
Mit Dracula-Cape, Regenschirm und weißen Galoschen, unterm Arm einen Laib Brot, an dem er ständig herumnibbelt wie ein Meerschweinchen, gibt Phil den Durchgeknallten. "Spanish Harlem" singt er zum ersten Mal in einem Hotelzimmer, in der Unterwäsche rittlings auf dem Fernsehgerät, während sich irgendein Assistent irgendeines Label-Bosses mit irgendwelchen Huren im Bett vergnügt. New York, New York.

Ray Peterson, "Corinna, Corinna"

Zitator:
Phil war wie Minerva, die aus Jupiters Kopf steigt! Hatte alles in sich! Völlig komplett!

Zitatorin:
Das war ein ziemlich überhebliches Kerlchen.

Spector:
Mein großes Vorbild ist Heinrich VIII. Der ist dem Ideal kompletter Gemeinheit so nahe gekommen, wie es die Schwäche der menschlichen Natur überhaupt nur erlaubt.

Erzähler:
Mitte 1961 hat Phil Spector acht Singles in der Hitparade. Man hofiert ihn in New York und Los Angeles. Ein unglaublicher Deal mit Elvis Presley und Bobby Darin platzt, hier hat Phil einmal zu viel beschissen. Niemand nimmt es ihm übel. Er bekommt einen Job bei Atlantis Records, dicker Chefsessel, riesiger Schreibtisch; die Leute, die zum Vorsingen bestellt sind, sitzen stundenlang im Wartezimmer, manchmal kommt Phil, manchmal auch nicht. Er trägt Plateauschuhe und kleine Robin-Hood-Mützen. Er ist noch längst nicht dort, wo er hinwill. Phil Spector sagt Atlantis – unter Mitnahme sämtlicher Vorschüsse – Lebewohl und gründet mit Lester Sills seine eigene Plattenfirma in Hollywood. Philles Records. Er ist jetzt zwanzig Jahre alt.

Crystals, "He's a Rebel"


Erzähler:
Phil Spector kehrt zurück ins Gold Star Studio. Das liebt er am meisten, das kann er am besten: Produzieren. Es ist die Hölle, mit Phil zu produzieren. Ohne blutende Finger kommt kein Gitarrist davon, und kein Sänger kann danach noch reden. Und zweihundert Playbacks sind das mindeste. Immer volle Lautstärke. Phil schreit, jammert, johlt, wirft mit Gegenständen, wälzt sich auf dem Boden. Dann zwingt er alle stundenlang im Dunkeln zu sitzen, wegen der Romantik. Tag für Tag telefonisch betreut von einem New Yorker Psychiater namens Dr. Kaplan, jagt er seinen Visionen nach.

Spector:
Meine Platten sind gebaut wie Wagneropern. Sie fangen einfach an und enden mit gewaltiger Dynamik, Bedeutung, Absicht. Es ist in alles meinem Kopf. Ich träume es. Ich wollte die Musikindustrie ein bisschen ... anschubsen.

Erzähler:
Andrew Oldham, Manager der Rolling Stones und ein großer Fan von Phil Spector, hat dem akustischen Größenwahnsinn des Pop-Wagners einen Namen gegeben: Wall of Sound. Die Klangwand wird Phils Markenzeichen. Immer von allem zu viel: Zu viele Leute im Studio, zu viele Instrumente, zu viele Overdubs, zu viel Hall, Übersteuerung bis zur Verzerrung, ein Musikbrei, überwältigend, übertrieben, immer auch ein bisschen widerwärtig, man überfrisst sich am Wall of Sound, man kann nicht genug kriegen. Und dazu die penetrante, herrlich verlogene süße Unschuld der Songs.

Zitator:
Ich wollte das Band beschriften und habe ihn gefragt, wie der Song heißt, und Phil hat gesagt, "Zip-a-dee-doo-dah". Ich meine ... das ganze Studio wackelt von diesem riesigen Boom-boom-boom, und ich meine ... als ich verstanden habe, dass das wirklich "Zip-a-dee-doo-dah" heißen soll ... da bin ich echt vom Stuhl gefallen.

Bob B. Soxx and the Blue Jeans, "Zip-a-dee-doo-dah"

Erzähler:
Philles Records startet durch mit zwei Girl Groups, den Crystals und den Ronettes. Sie sind Lehm in Spectors Händen, ihre Hits Studio-Artefakte, niemanden interessiert der künstlerische Ausdruckswille irgendwelcher Crystals oder Ronettes. Lester Sills, Phils guter Ersatzvater und Mentor, wird als Teilhaber des Labels abgeschafft, bevor er überhaupt weiß, wie ihm geschieht. Phil Spector duldet keine Götter neben sich. Er hat ein gutes Team – den Arrangeur Jack Nitzsche, den Techniker Jerry Levine, dazu einen jungen Mann namens Sonny Bono, der als Testhörer dient. Bei jeder Platte fragt ihn Phil, "Sonny, ist das blöd genug?" Phil Spector hat auch geheiratet, ein blondes Mädchen namens Annette. Dann hat er ein Techtelmechtel mit Ronnie von den Ronettes, die heiratet er als nächstes. Phil Spectors Frau zu sein, scheint ein schweres Los. Unzählige Anekdoten, niemand weiß, was wirklich stimmt. Hat er tatsächlich einen Chirurgen angestellt, der seiner kerngesunden Ronnie die Beine eingipste, damit sie nicht fortlaufen konnte? Zwingt er sie wirklich, immer eine Phil-Spector-Gummipuppe im Auto mitzunehmen, damit sie den Liebsten auch keine Minute vergisst? Phil Spector spinnt. Mit vierundzwanzig ist er Millionär. Tom Wolfe tauft ihn "The First Tycoon of Teen".

Ronettes, "Be My Baby"

Erzähler:
Philles Records spuckt einen Hit nach dem anderen aus. "Be my baby", "There's no other like my Baby", "Uptown", "He's a Rebel", "He's sure the boy I love", "Da doo ron ron", "Then he kissed me". Phil Spector läuft mit einem T-Shirt herum, auf dem Beethovens Gesicht abgebildet ist. Seine Studiomusiker lassen sich dann T-Shirts mit Phil-Spector-Foto drucken.

Zitatorin:
Oh, das hat ihm gefallen!

Erzähler:

Eine Single der Crystals wird kein Hit. Radiosender weigern sich, sie zu spielen, und sie wird bald vom Markt genommen. Es ist ein Song aus der Feder von Carole King, der das Glück verprügelter Frauen besingt: "He hit me (and it felt like a kiss)".

Zitator:

Phil ist selber ein Masochist.

Zitatorin:

Klar, Phil ist der absolute Sadist!

Erzähler:
Phil Spector hat die kleine Prügelhymne liebevoll produziert. Es sind keine Faustschläge, eher ein Stock oder gar eine Peitsche; ein Klassiker für Kenner. In Andy Warhols Factory in Manhattan dreht sich die Single Tag und Nacht.

Zitator:
Wir haben das furchtbar geliebt, weil der Text so krank ist!

Crystals, "He hit me (and it felt like a kiss)"


Erzähler:
Eine exquisite Scheußlichkeit anderer Art ist das Album "A Christmas Gift For You" von 1963. "Rudolph the Red-Nosed Reindeer", "White Christmas", "Frosty the Snowman": aufpolierte Weihnachtslieder für die Rock'n'Roll Generation. Man darf sogar, zu den Klängen von "Stille Nacht, Heilige Nacht", die Stimme des Meisters hören; ein seltener Genuss. Sanftmütig wünscht der Sadist uns allen ein frohes Fest. Onkel Phil, der Weihnachtsmann der Nation.

"A Christmas Gift for You", "Silent Night": Text "May we wish you the very merriest of Christmas ...", Musikschnitt an "I saw Mama ..."

Erzähler:
Es geht ihm nicht gut. Er ist schlaflos, hektisch, panisch, paranoid. Karatestunden, mehrere Bodyguards und der leidgeprüfte Dr. Kaplan können die Angst nicht besiegen. Phils Mitarbeiter freuen sich nicht, als er seine erste Pistole kauft. Auch seine Platten trösten ihn nicht. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Phil Spector ist keinesfalls ein Fan von Zuckerpop und Weihnachtsliedern. Zuhause hört er den Ring der Nibelungen, Jazz, Soul, Rhythm&Blues. Er sehnt sich nach wahrer Leidenschaft, nach Musik, die aus dem Herzen kommt – und sich gleichzeitig gut verkauft. Die Rettung kommt in Gestalt der Herren Medley und Hatfield alias "The Righteous Brothers". Sie sind weiß und ihre Musik klingt schwarz, eine heftige Mischung aus Blues und Soul und Gospel. Phil ist hingerissen. Zusammen mit Barry Mann schreibt er einen passionierten Klagegesang über den Niedergang einer großen Liebe, "You've lost that lovin' feelin'". "Du schließt die Augen nicht mehr, wenn ich dich küsse, und aus deinen Fingerspitzen ist die Zärtlichkeit verschwunden ..." Phil Spector bestellt die Righteous Brothers ins Studio. Bill Medley fühlt sich geehrt – und wundert sich:

Bill Medley O-Ton:
So they wrote this ballad and Phil Spector and Barry Mann sat down at the piano and sang it to us. And they both had real high voices. And when they got done I said man, that's a great song for The Everly Brothers. Cause they sounded like The Everly Brothers. They had these real high thin voices. And I couldn't imagine this was the song Phil Spector wanted to do with us. Two crazy little rock and roll guys. So we started learning it and the complexion of the song changed dramatically by trying to find the right key because the song has a pretty huge range to it. And to get up to "you've lost that lovin feelin" real high note you have to start out low. We started out (singt) "you never close your eyes anymore" and than I couldn't get to "you've lost that lovin feelin" So we'd drop a little lower to "you never close .." lower to "you never close ..."

Zitator (Bill Medley VO):
Sie haben diese Ballade geschrieben und Phil Spector und Barry Mann setzten sich ans Klavier und sangen sie uns vor. Sie hatten beide sehr hohe Stimmen. Ich habe gesagt, toller Song – für die Everly Brothers! Sie klangen nämlich wie die Everly Brothers, diese ganz hohen, dünnen Stimmen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was Phil Spector damit bei uns wollte. Zwei verrückte kleine Rock'n'Roll-Typen ... Wir haben den Song dann gelernt und versucht, die richtige Tonart zu finden. Dabei hat er sich sehr verändert ...

Righteous Brothers "You've lost that lovin' feelin' "

Erzähler:
Die Righteous Brothers leisten rechtschaffene Arbeit. Dann kommt die Spector-Keule. Der Meister zieht noch einmal alle Register und türmt einen Wall of Sound auf, wie ihn die Welt noch nicht gehört hat. "You've Lost That Lovin' Feelin'" wird ein gewaltiger Erfolg, Woche um Woche steht es auf Platz eins der internationalen Hitparaden. Die Righteous Brothers staunen. Was hat das auf sich mit dem Wall of Sound? Irgendein Dreiklang, und dann lauter Instrumente, die alle dasselbe spielen ... Den Righteous Brothers hat sich Spectors Magie nicht wirklich erschlossen.

Bill Medley O-Ton:
The Wall of Sound is ...what the word says. No more than a wall of sound. It's taking a triad chord, it's taking three pianos, playing exactly the same thing, three or four guitars, playing exactly the same thing, two basses, playing exactly the same thing ...

Righteous Brothers "You've lost that lovin' feelin' "

Erzähler:
Kann man das noch toppen? Ein Phil Spector kann. Philles Records dümpelt fröhlich auf der Erfolgswelle der Righteous Brothers, aber der Boss brütet über seinem Meisterwerk. Lange genug hat er die Teenager mit Marshmallows gefüttert – jetzt will er ihnen an die Halsschlagader. Lange findet er keinen, der seiner Apotheose würdig gewesen wäre. Dann findet er jemanden: Eine junge Frau mit einer gewaltigen Stimme und einem brutalen Mann: Tina Turner. Es heißt, Phil Spector habe Ike Turner ein Lösegeld von 20.000$ gezahlt, nur um Tina einmal ausleihen zu dürfen. Zusammen mit Ellie Greenwich und Jeff Barry schreibt er einen Song für sie: "River Deep – Mountain High". "Als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich eine Lumpenpuppe – die einzige Puppe, die ich je besaß. Und jetzt liebe ich dich, wie ich damals meine Lumpenpuppe liebte, how I love you, my oh my, river deep, mountain high." Die Studio-Sessions sind legendär geworden. Stunde um Stunde röhrt Tina ihre Liebes- und Lust- und Verzweiflungsschreie in Phils Mikrophon, bis sie sich endlich die Kleider vom Leib reißt und die Aufnahme unter Tränen, halb besinnungslos, in Unterrock und BH zuende bringt, eine Hand am Kopfhörer, die andere zwischen den Beinen. Keine spätere Aufnahme von "River Deep, Mountain High", kann diesem grandiosen Gefühlsspektakel das Wasser reichen. Und da soll einer noch behaupten, Phil Spector habe ein kaltes Herz!

Tina Turner, "River Deep, Mountain High"

Erzähler:
"River Deep, Mountain High" ist Phil Spectors Götterdämmerung, und sein Waterloo. Was er als Vollendung seines Werks ansieht, fällt durch. Die Single floppt. Niemand weiß "River Deep, Mountain High" zu schätzen. "Was ist denn das für ein Haufen Krach?", fragen die Radio-Djs, "was ist denn das für ein verdammtes Gegröhle?" Man schreibt das Jahr 1966. Ein Zeitalter ist zuende. Phil Spector verschwindet von der Bildfläche. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt.

Spector:
River Deep war mein Abschied. Ich wollte mich nochmal austoben, wissen Sie, ein paar Minuten austoben – vier Minuten auf Vinyl, mehr ist das nicht gewesen. Ich habe es geliebt.

Erzähler:
Phil Spector versinkt in Suff und Schweigen. Er hat nicht einmal mehr eine Gitarre im Haus. Philles Records stirbt einen langsamen Tod. Der Meister schleicht durch Hollywood, im schwarzen Maßanzug, auf dem Kopf Tirolerhüte oder Perücken oder beides. Dennis Hopper überredet ihn zu einer Nebenrolle in "Easy Rider". Phil spielt einen Kokaindealer. Aber auch auf der Leinwand sagt er kein einziges Wort.

Spector:
Schade eigentlich, dass Noah und seine Mischpoche die Arche nicht verpasst haben.

Erzähler:
Vier lange Jahre nach "River Deep, Mountain High" kommt Phil Spector wieder aus der Versenkung. Es ist kein geringer Anlass, der ihn hervorlockt: Jemand soll aus dem hinterlassenen Bandsalat der verzankten Beatles eine Platte machen, die als würdiges Erbe der größten Band der Welt durchgehen kann. Phil setzt sich in den Keller von Apple Records in London und macht aus über dreißig Stunden ungeschnittenen Studioaufnahmen das Album "Let It Be".

Beatles, "The long and winding road"

Seitdem hassen ihn Beatles-Fans fast so sehr wie Yoko Ono. Als vor zwei Jahren unter dem Titel "Let it Be – Naked" eine neue, spectorfreie Mischung der alten Bänder auf CD erschien, frohlockte die Musikpresse, als habe man den Gottseibeiuns ausgetrieben. Der Bombast ist weg! Spectors Schmalzkruste ist ab! Die widerlichen Engelschöre endlich abgeschafft!

Spector:
Alle haben geschrieen, Oh, Beatles, ihr lieben Beatles, trennt euch doch nicht, gebt uns doch wenigstens ein Andenken! Und dann gibt man es ihnen und man kriegt eins in die Fresse. Es ist Scheiße, es ist dieses, es ist jenes ... Aber das sind doch eure Beatles, eure wundervollen Beatles! Vergesst doch meinen Namen!

Erzähler:
Zwei der einstmaligen Beatles scheinen Spectors Arbeit nicht allzu sehr zu verachten. Er produziert "Imagine" mit John Lennon, "All Things Must Pass" mit George Harrison. Immer Platz eins der Charts. Phil Spector hasst die Welt. Er lässt seine Bodyguards auf wildfremde Leute los, die ihn vielleicht schief angesehen haben. Seine Ehe mit Ronnie wird endlich geschieden, das Gezerre um die drei adoptierten Kinder beginnt, ein schreckliches Theater.

John Lennon "You can't catch me"

Erzähler:
1974 gibt es noch einmal Spaß mit John Lennon. Er säuft jetzt mehr als Phil Spector, und das will etwas heißen. Es ist nicht gemütlich im Studio. Phil schießt in die Fensterscheibe und John Lennon bekommt solche Tobsuchtsanfälle, dass man ihn mit Stricken an einen Stuhl fesseln muss. Das Ziel der Übung: Eine Platte mit Rock'n'Roll-Klassikern. Keine Sternstunde in John Lennons Biographie.

John Lennon O-Ton:
The Rock'n'Roll thing, yea. I put that within "no more 74", you know. I don't wanna go through that again. (...) I started it, and it took me two weeks to talk him into the fact that I was gonna let him control it cause when I worked with him before I kept control of it. And we got going, and it got madder and madder and madder and then it collapsed and he vanished and then I got a note or I read in the papers he had a car crash, one never knows because Phil was, the least you could call it was eccentric - and that coming from someone who was bombed ... Somehow or other he had the tapes, we cut seven or eight tracks, so I was tapeless, and jobless, you know, I mean, the thing that started out to be fun ended up funny.

Zitator (John Lennon VO):
Das gehört auch zu "nie mehr 1974". Das möchte ich nicht nochmal erleben. Ich habe erstmal zwei Wochen gebraucht um Phil zu überzeugen, dass er der Boss sein darf, und dann haben wir angefangen und es wurde verrückter und verrückter, und dann brach alles zusammen und Phil war weg. Dann las ich in der Zeitug, dass er einen Autounfall hatte, aber man weiß ja nie, Phil war, naja, sanft ausgedrückt ein Exzentriker ... ich muss gerade reden, blau wie ich war ... Aber er hatte die Bänder. Und ich war bandlos, und arbeitslos, und diese Sache, die eigentlich lustig werden sollte, war dann eher ... komisch geworden.

Erzähler:
Der Exzentriker hatte wirklich einen Autounfall. Mit dem Kopf voraus durch die Windschutzscheibe seines Rolls Royce. Als er aus dem Krankenhaus kommt, sprüht er seine Haare mit Silber- und Goldlack ein, um von seinem zerschnittenen Gesicht abzulenken. Außerdem trägt er die Pistole jetzt offen an der Hüfte.

Zitator:
Er musste eine Nacht ins Gefängnis, irgendein Polizist hat gedacht, das ist so ein Charles-Manson-Spinner.

Erzähler:
Und Phil Spector verkriecht sich wieder, allein mit seinen Leibwächtern in einem abgedunkelten Palast. Re-Issues der alten Hits erscheinen, er hört Wagner, er lebt von seinen Tantiemen. 1977 ein schlimmer kleiner Reinfall mit Leonard Cohen, zwei Kampftrinker zusammen im Studio, die Platte, "Death of a Ladies‘ Man", eine einzige Katastrophe. Und 1980 dann die verfluchten Ramones.

Ramones "Teenage Lobotomy" (It's Alive)

Erzähler:
So klingen die Ramones, wenn sie wie die Ramones klingen. Die beste Punk-Band der Welt. Sie brauchen keinen Phil Spector und Phil Spector braucht keine Ramones. Das erste, was er zu ihnen gesagt haben soll: "Meine Bodyguards wollen eure Bodyguards verhauen." Und dass ihn Joey Ramones Stimme an seine verflossene Ronnie erinnert. Eine absurde Paarung, der frühpensionierte Pop-Tycoon und die abscheulichen Ramones. Phil sperrt sie in seinem Haus ein, zeigt ihnen rund um die Uhr alte Horrorfilme, die Hand an der Pistole. Johnny Ramone keift herum, Dee Dee Ramone bibbert im Heroinentzug, Marky Ramone organisiert kleine Fluchtversuche und der gute Joey fühlt sich immer noch geschmeichelt, dass er wie Ronnie Spector klingen soll. Er singt wirklich ein Lied von den Ronettes, "Baby I Love You". Johnny Ramone spuckt aus. Die Platte heißt "End of the Century", kein schlechter Titel. Sein Leben lang verflucht Johnny Ramone den Tag, als er Phil Spector kennenlernte.

Johnny Ramone O-Ton:
So we hit the chord, he paces around the room for about three hours, cursing – go back, play the chord again, play the chord, pace around the room for three more hours, cursing at the engineer, this goes on for twelve hours ...
He's a little man with lifts in his shoes, a wig on top of his head and four guns. He's an asshole to everybody, treats everybody horrible.

Zitator (Johnny Ramone VO):
Wir spielen einen Akkord, er läuft drei Stunden fluchend im Zimmer rum, kommt zurück, wieder ein Akkord, läuft wieder drei Stunden rum, brüllt den Techniker an, und so geht das zwölf Stunden lang.
Ein kleiner Mann mit Fersenerhöhung in den Schuhen, Perücke und vier Pistolen. Er ist zu allen ein Arschloch.

Ramones "Baby I Love You"

Erzähler:
Die Jahrzehnte gehen ins Land. 1980, 1990, 2000. Phil Spector sitzt mit der Sonnenbrille im Dunkeln. Wenn er einmal zum Vorschein kommt, fällt er unangenehm auf. Er kommt nicht oft zum Vorschein. Phil Spectors stolzes Elend. Ende 2002 will er dann plötzlich ein neues Leben beginnen. Er setzt seine Psychopharmaka ab, hört auf zu trinken, entlässt alle Bodyguards. Er traut er sich zum ersten Mal wieder ins Studio. Mit der jungen englischen Band "Starsailor" nimmt er zwei Songs für deren neues Album auf. Er geht wieder öfter aus, fällt plötzlich angenehm auf, und sei es nur wegen seiner 500-Dollar-Trinkgelder. James Stelfox, der Bassist von "Starsailor", kann sich überhaupt nicht vorstellen, wie jemand etwas gegen Phil Spector haben kann.

James Stelfox O-Ton:
He was great, one of the most charming people I met. Just very witty and nice to be 'round, like, he tells you stories about John Lennon shitting his pants or something, or Paul McCartney arguing, whatever ... Just great to hear his stories about the legends that you've grown up loving, it's just amazing. So what I saw of him was a very charming gentleman, and that I want him to stay for me. People keep saying, oh, hear about when he did this, or when he pulled a gun on Joey Ramone ... he didn't do that to me, so I'm okay with it.

Zitator (James Stelfox VO):
Er war großartig, einer der charmantesten Menschen, die ich kenne. Sehr witzig und angenehm, und er kann diese Geschichten erzählen, wie sich John Lennon in die Hose gemacht hat und Paul McCartney rumgezankt hat, lauter Geschichten über die alten Legenden, fabelhaft. Was ich von ihm sah, war dieser sehr charmante Gentleman, und das soll er für mich auch bleiben. Alle sagen dauernd, oh, das hat er gemacht, und Joey Ramone hat er mit der Pistole bedroht ... Bei mir hat er das nicht gemacht, und mir solls egal sein.

Erzähler:
Die Ermittlungen im Fall Lana Clarkson sind längst abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft plädiert auf Mord. Im September soll der Prozess endlich beginnen. Phil Spector sagt standhaft "not guilty". Er ist mit dieser Meinung ziemlich allein.

Spector:
Was Glück ist? Glück ist ... Glück ist, wenn man sich ... wohl fühlt und keine miese Scheiße im Kopf hat. Das ist Glück. Gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis. Das ist Glück.

Tina Turner, "Save the Last Dance For Me"

© 2004 by Christine Wunnicke